Ukraine
Journalismus im Krieg: Die Lage der Medien in der Ukraine
In der demokratischen Gesellschaft spielen die Medien eine entscheidende Rolle. Mit zuverlässigen und unvoreingenommenen Informationen kann das Publikum sich ein bewusstes Urteil bilden und den Weg der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Institution der repräsentativen Demokratie wählen. Dazu müssen die Medien jedoch von der Regierung und den Finanz- und Wirtschaftsgruppen unabhängig sein.
Die derzeitige Phase der Medienentwicklung in der Ukraine hat einen klaren Anfang – den 24. Februar 2022. Aber auch davor hatten die Medien viele Probleme. In erster Linie waren es wirtschaftliche Probleme und hingen mit der allgemeinen Wirtschaftskrise zusammen, die zu niedrigen Werbebudgets und unzureichender Zahlungsfähigkeit des Publikums führte. Die Medien warjen völlig abhängig von ihren Eigentümern, für die sie keine Gewinnquelle, sondern ein Mittel zur Bildung einer positiven öffentlichen Meinung waren. Viele kritische Beiträge waren kein Beleg für Meinungsfreiheit, sondern Auftragsarbeiten zur Vernichtung von Konkurrenten. Viele Medien waren Instrumente des Einflusses finanzieller und politischer Gruppen geworden, und die Interessen der Gesellschaft gerieten in den Hintergrund.
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Die Auswirkungen des Krieges auf die Medienlandschaft
Das Problem der Informationsoffenheit bleibt akut. Die Medien haben zwar eine Informationsfunktion, sind aber auch ein Mittel zur Unterrichtung der Gesellschaft, ein Kanal zur Äußerung der öffentlichen Meinung und ein Instrument der sozialen Kontrolle über die Regierung und den Staat. Daher ist das Recht auf Information und der Zugang zu ihr nicht nur für Journalistinnen und Journalisten von vitaler Bedeutung. Zahlreiche Fakten belegen jedoch, dass zwischen dem Recht auf Information und dem tatsächlichen Zugang zu ihr eine wachsende Kluft besteht.
Schon vor der groß angelegten Invasion war die Verhüllung von Informationen für alle Regierungszweige, Behörden, Beamten, Unternehmen und Finanzinstitute alltäglich. Nun sind militärische Beschränkungen hinzugekommen. Der Befehl Nr. 73 des Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Ukraine vom 03.03.2022 regelt die journalistische Arbeit während des Krieges. Ziel des Erlasses ist es, die Interaktion zwischen dem Militär und Journalistinnen und Journalisten zu gewährleisten, um die Öffentlichkeit objektiv zu informieren und den Staat vor der Weitergabe sensibler Informationen zu schützen, die der Ukraine schaden könnten. Eine positive Entwicklung war die Einführung eines einheitlichen Akkreditierungssystems, das als Passierschein für das Kriegsgebiet dient. Allerdings wurden auch eine Reihe von Beschränkungen für Journalistinnen und Journalisten eingeführt: die Arbeit an der Front in Begleitung eines Presseoffiziers, die Ausweisung von Gebieten für die Medienarbeit und die Verpflichtung, Foto- und Videomaterial zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen, was viele Fragen aufwirft, vor allem bei westlichen Journalistinnen und Journalisten. Derzeit ist es Medien nicht gestattet, die Namen von Militäreinheiten zu veröffentlichen, persönliche Daten von Militärangehörigen, ihre Standorte, Daten über Bewegungen sowie Anzahl, Art und Menge der militärischen Ausrüstung preiszugeben. Ebenso untersagt ist die Veröffentlichung des Inhalts von Befehlsplänen und Kampfaufgaben, der Wirksamkeit und Methoden der Kampfhandlungen, von Informationen über Verluste an Ausrüstung und Personal sowie der Ergebnisse feindlicher Raketen- und Luftangriffe.
Risiken und Herausforderungen für Journalistinnen und Journalisten
Krieg bringt Tod und Leid mit sich. Nach Angaben des Nationalen Journalistenverbands der Ukraine und der Internationalen Journalisten-Föderation wurden bis Oktober 2024 102 Journalistinnen und Journalisten getötet: 18 Medienschaffende kamen bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit ums Leben; 9 waren zivile Opfer; 75 Medienvertreter wurden mobilisiert und starben im Dienst der ukrainischen Verteidigungskräfte. Das jüngste Opfer ist die ukrainische Journalistin Viktoria Roshchyna, die Anfang Oktober 2024 in russischer Gefangenschaft starb. Die Umstände des Todes der Journalistin sind derzeit nicht bekannt.
Die Akademie der ukrainischen Presse hat mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit das Projekt „Träger der Erinnerung. Journalistinnen und Journalisten, die im russisch-ukrainischen Krieg starben“ aufgesetzt, in dem sie die Biografien von 46 Medienschaffenden erzählt, die Opfer der umfassenden Invasion wurden.
Der Krieg hat die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten unsicherer gemacht. Viele Medienschaffende wurden bei russischen Angriffen verletzt, und es gibt Berichte über russische Inhaftierungen in den besetzten Gebieten der Ukraine. Medienbüros und andere Infrastrukturen, insbesondere Fernsehtürme, werden in der Ukraine regelmäßig bombardiert. Ein besorgniserregender Trend sind die gezielten Angriffe Russlands auf Hotels und andere zivile Infrastrukturen, die von Journalistinnen und Journalistenn genutzt werden. Auch die Hacker- und DDoS-Angriffe auf Medien und Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine haben massiv zugenommen.
Mit dem Beginn der groß angelegten Invasion stieg der Informationsbedarf der Einwohner entlang der Frontlinie stark an. Gedruckte Zeitungen und lokale Informationsseiten, die durch die Einrichtung von Internetverbindungen zugänglich wurden, entwickelten sich zu Symbolen der Stabilität und dienten als Basis für fundierte Entscheidungen. Laut einer Studie des Nationalen Journalisten-Verbands der Ukraine (NJVdU) verlor zugleich eine von fünf Frontzeitungen den Zugang zu Räumlichkeiten oder Vermögen. Durch den Verlust von Anzeigen sind die Einnahmen stark zurückgegangen, was zu Kürzungen bei allen Arten von Redaktionskosten, einschließlich der Arbeitsplätze, geführt hat. Auch die Zahl der Mitarbeiter/innen ist gesunken, zum einen durch die Abwanderung von Journalistinnen und Journalisten in andere Regionen, zum anderen durch die Suche nach einer Beschäftigung außerhalb des Journalismus.
Die Medien, einschließlich der Printmedien, durchleben schwierige Zeiten. Laut der Studie von S. Cherniavsky „Medienlandschaft der Printmedien in der Ukraine“ registrierte der Nationale Rat für Fernsehen und Rundfunk am 01.08.2024 1.361 Zeitungen, 1.519 Zeitschriften und 637 andere Arten von Printmedien. In Wirklichkeit, so der Forscher, gab es am 01.01.2024 1.174 Printmedien in der Ukraine. Ein weiteres großes Problem ist der Personalabbau: Von 2020 bis 2024 ging die Zahl der Beschäftigten in den Printmedien um 75 % oder 42.000 zurück.
Zu Beginn der groß angelegten Invasion schlossen sich die führenden ukrainischen Sender in einem Telemarathon mit dem Namen „Die Vereinten Nachrichten" zusammen, um die Bevölkerung zu informieren. Die Kanäle der Medienholdings 1+1 Media, Starlight Media, Inter Media Group, Media Group Ukraine sowie die Nationale Öffentliche Rundfunkgesellschaft der Ukraine und der Rada-Kanal der Werchowna Rada der Ukraine schlossen sich zusammen. Die Unternehmen senden in Abständen von fünf bis sechs Stunden.
Nach und nach verlor der Telemarathon an Einschaltquoten und wurde als eine Form der Zensur angesehen. Im August 2024 ergab eine vom Rasumkov-Zentrum in Zusammenarbeit mit der Ilko Kutcheriv-Stiftung „Demokratische Initiativen" durchgeführte Umfrage, dass die Mehrheit der Bevölkerung (50,6 %) der Meinung war, das Format des Telemarathons habe seine Bedeutung verloren. Im April 2024 wurde der Telemarathon „Die Vereinten Nachrichten“ in den Bericht des US-Außenministeriums über Menschenrechtsverletzungen aufgenommen. Es wurde festgestellt, dass dies ein „noch nie dagewesenes Maß an Kontrolle über die Fernsehnachrichten zur Hauptsendezeit“ darstellte. Zudem gab es auch Berichte über Druck seitens des Präsidialamtes.
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Veränderungen im Medienkonsum
Im Verlauf des Krieges haben sich die Quellen, aus denen die Ukrainerinnen und Ukrainer Nachrichten beziehen, erheblich verändert. Laut einer Studie von Internews Network (2024) bezieht nur noch ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung ihre Nachrichten aus dem Fernsehen, 6 % nutzen das Radio, etwa ein Fünftel konsumiert Nachrichten auf nationalen Webseiten. Die Mehrheit bevorzugt Telegram-Kanäle als Nachrichtenquelle (41 %). YouTube (12 %), Facebook (9 %) und Viber (7 %) sind ebenfalls sehr beliebt.
Was das Vertrauen angeht, so vertraut die Mehrheit der Bevölkerung im Jahr 2024 am ehesten den sozialen Medien (47,3 %), dem Internet ohne soziale Medien (43 %) und dem Fernsehen (34,1 %). Im Jahr 2024 sank das Vertrauen in alle Informationsquellen, und die Zahl der Menschen, die keiner Informationsquelle vertrauen, steigt (15,2 %).
Das USAID IREX Vibrant Information Barometer hat auch Veränderungen im Medienkonsum festgestellt. Die Menschen bevorzugen zunehmend „schnelle Nachrichten“ – Kurznachrichten und Videoformate. Die Ukraine hat sich dabei eine pluralistische und vielfältige Medienlandschaft bewahrt, die sich an die Bedingungen des Krieges angepasst hat.
Doch die Hinwendung zu sozialen Netzwerken, insbesondere zu anonymen Telegram-Kanälen, die ungeprüfte Informationen einschließlich Kreml-Propaganda verbreiten, macht es dringend notwendig, kritisches Denken, Informationssicherheit und digitale Hygiene zu entwickeln. Das Niveau der Medienkompetenz und der digitalen Sicherheit unter den Ukrainerinnen und Ukrainern ist immer noch unzureichend. In seiner hybriden Kriegsführung setzt Russland in großem Umfang Desinformations- und Propagandamittel ein, sodass die Fähigkeit der Bevölkerung, Desinformationen zu erkennen, und die Fähigkeit, den Inhalt von Nachrichten zu überprüfen, von kritischer Bedeutung sind.
Nach einer Untersuchung von Detector Media lag der Gesamtindex der Medienkompetenz in der Ukraine im Jahr 2023 bei 76 %. Eine vergleichbare Mehrheit der Menschen glaubt, dass die Medien nicht im Interesse des Staates (25 %) oder der Gesellschaft als Ganzes (12 %) arbeiten, sondern im Interesse ihrer Eigentümer (30 %). Die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung unterstützt die Kritik an der Regierung in den Medien. 76 % halten es für wichtig, dass die öffentlichen Medien vom Staat und den Eigentümer unabhängig sind. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind aktive Internetnutzende: Nur 6 % nutzen das Internet nicht und 91 % haben täglich oder fast täglich Zugang zum Internet. Während des Krieges hat das Problem der Desinformation für das Publikum natürlich an Bedeutung gewonnen, und die Sensibilität gegenüber verzerrten Inhalten ist hoch. Es wird immer üblicher, Informationen zu überprüfen.
Wie geht es weiter?
Seit Beginn des Krieges stehen die ukrainischen Journalistinnen und Journalisten vor einer schwierigen Entscheidung. Wie soll man in Zukunft arbeiten? Hilft Kritik an der Regierung während des Krieges nicht dem Feind? Der Loyalitätsjournalismus fand jedoch keinen großen Anklang bei den ukrainischen Journalistinnen und Journalisten, die ihre professionelle Arbeit fortsetzten und Missstände und Korruption untersuchten.
Seit dem Beginn des Krieges sind Journalistinnen und Journalisten kritischer gegenüber der Realität geworden. Interessante Daten enthält eine Studie des Zentrums für Menschenrechte ZMINA, die Daten vom Januar 2023, mit denen vom Juni 2019 vergleicht: Die Bewertung des Zustands der Redefreiheit hat sich von 7,6 auf 6,4 Punkte auf einer 10-Punkte-Skala verschlechtert. Das bedeutet einerseits, dass sich die Situation deutlich verschlechtert hat, andererseits wird der Zustand der Meinungsfreiheit in der Ukraine trotz der kriegsbedingten Einschränkungen immer noch als recht hoch eingeschätzt.
Zu den Einschränkungen der Redefreiheit, die vor allem von ukrainischen Medienschaffenden genannt werden, gehören: Verweigerung von Informationen durch Beamte, Zensur und Verbot der Informationsverbreitung sowie Verweigerung der Akkreditierung. Was die Zensur betrifft, die in Teil 2 von Artikel 15 der ukrainischen Verfassung ausdrücklich verboten ist, so können die Menschenrechte und Freiheiten während des Krieges eingeschränkt werden, aber in einem demokratischen Staat müssen solche Einschränkungen gerechtfertigt sein. 26 Prozent der Journalistinnen und Journalisten sind der Meinung, dass die Zensur in der Ukraine systembedingt ist, 38 Prozent glauben, dass sie in bestimmten Medien existiert, und 31 Prozent glauben, dass es sich um einen Einzelfall handelt. Die Hauptursachen für die Zensur sind die Behörden, die Medieneigentümer und die Selbstzensur. Der Krieg hat dazu geführt, dass eine beträchtliche Anzahl von Journalistinnen und Journalisten (40 %) der Meinung ist, dass eine begrenzte Zensur notwendig ist, und etwa die gleiche Anzahl glaubt, dass es Themen gibt, über die nicht berichtet werden kann.
Professor Valeriy Ivanov ist Doktor der Philologie und Präsident der Akademie der ukrainischen Presse
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