Publikation
Lebt Putin in einer "anderen Welt"?
3. Russische Außen- und Sicherheitspolitik
Das „System Putin“ war im Hinblick auf die staatliche Kontrolle der Gesellschaft über längere Zeit auf bestimmte Bereiche beschränkt. Mischa Gabowitsch hat das in seiner fulminanten Analyse der neuen russischen Protestkultur 2013 wie folgt beschrieben: Kritik werde toleriert, nur nicht im Fernsehen; Versammlungen könnten stattfinden, nur nicht auf zentralen Plätzen; oppositionelle und gesellschaftliche Aktivisten könnten sich frei bewegen, solange diese Bewegungen keine Herausforderung an mächtige Interessen darstellten. Für den Rest der Bevölkerung gelte ein „Pakt der Nichtteilnahme“: Solange man sich von der Politik fernhalte, nicht gegen Willkür protestiere und nicht absichtlich oder zufällig den Interessen der Eliten in die Quere oder ihren teuren Autos in den Weg gerate, dürfe man an dem wirtschaftlichen Aufschwung und vor allem den neuen Möglichkeiten des Konsums teilhaben.156 Mit Beginn von Putins dritter Amtszeit als Präsident und noch einmal verstärkt seit der Annexion der Krim verfolgt die russische Regierung einen immer härter werdenden Kurs gegen interne Kritiker und Akteure der Zivilgesellschaft. Die gegenwärtige Woge nationaler Begeisterung offensichtlich nutzend, verstärkt sie die Repression. Denn die krisenhaften Tendenzen in der Wirtschaft– Analysten konstatieren bereits eine Rezession – könnten den momentanen großen Rückhalt in der Bevölkerung ebenso rasch wieder schwinden lassen. In Duma und Föderationsrat, so berichten Beobachter aus Moskau, tobe derzeit ein Überbietungswettkampf um härtere Vorschläge für Straftatbestände. So sieht das Strafgesetzbuch seit Anfang Mai vor, dass ein „Aufruf zum Verstoß gegen die territoriale Unversehrtheit der Russischen Föderation“ mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann, erfolgt er online, sogar mit bis zu fünf Jahren.Ca. 30.000 Blogger in Russland, die jeweils mehr als 3.000 Leser haben, müssen sich im Rahmen eines „Anti-Terror-Pakets“ bei der zuständigen Medienaufsicht registrieren lassen und damit Auflagen wie Massenmedien erfüllen. Dieses Gesetz zielt in erster Linie, aber nicht nur, auf populäre kritische Geister im Netz wie Alexei Nawalny, den zur Zeit vielleicht bekanntesten russischen Blogger und ehemaligen Moskauer Bürgermeisterkandidaten, der viele seiner Korruptionsenthüllungen im Netz verkündet hat und seit Monaten unter Anklage wegen Veruntreuung und unter Hausarrest steht.159 In diesem Kontext werden amtlicherseits auch Überlegungen zur Blockierung von Facebook und Twitter immer lauter. Im Rahmen einer seit Monaten laufenden öffentlichen – bzgl. der Urheberschaft aber anonymen – Kampagne mit dem Slogan „Fünfte Kolonne. Fremde sind unter uns“ werden Politiker, Journalisten und Künstler, die sich gegen die Krim-Annexion und damit gegen die russische Führung gestellt haben, als „Nationalverräter“ im Dienste des Westens dargestellt. Kurze Zeit vorher liefert der russische Präsident in seiner Rede vor dem Parlament am 18. März nach der vollzogenen „Wiedervereinigung“ mit der Krim die entsprechenden Stichworte. Wenn im Westen über eine mögliche Verschärfung innerer Probleme Russlands gesprochen werde, „dann wüsste man gerne, was damit gemeint ist: die Taten einer fünften Kolonne – verschiedener Arten von Nationalverrätern – oder rechnen sie darauf, dass sie die sozioökonomische Lage verschlechtern können und so die Unzufriedenheit der Menschen provozieren können? Dies ist eine klare Warnung an alle Kreml-Kritiker und wird von russischen Oppositionellen denn auch als wichtigste Botschaft verstanden. Wenige Tage später droht Putin in einer Rede vor dem Inlandsgeheimdienst FSB den Nichtre- gierungsorganisationen im Land mit einem härteren Vorgehen: „Wir werden niemals zulassen, dass sie für destruktive Taten wie in der Ukraine ausgenutzt werden.“ Der Musiker Andrej Makarewitsch, einst Unterstützer Putins und nun im Rahmen der Kampagne als „Verräter“ und „Verbrecher“ gebrandmarkt, erinnert den Präsidenten daran, dass die Begriffe „Nationalverräter“ aus Hitlers „Mein Kampf“ und „Fünfte Kolonne“ von dem spanischen Diktator Franco stammen. Der bekannte Oppositionspolitiker Boris Nemzow – auch er als „Nationalverräter“ namentlich aufgeführt – sieht vor dem Hintergrund der strafrechtlichen und moralischen Verfolgung die Handlungsmöglichkeiten der Opposition insgesamt schwinden und spricht von einer Rückkehr des Dissidententums aus der Sowjetzeit.
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