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Türkei
Lira im freien Fall

Anatomie einer Krise
Lira im freien Fall

Die türkische Landeswährung verliert in diesen Tagen dramatisch an Wert

© GettyImages / Mehmet Kalkan

Unsere Experten in Istanbul analysieren die aktuelle Lage vor Ort. Dieser Artikel stammt aus dem neuen Türkei-Bulletin. 

In diesen Tagen dominiert der eskalierende Streit zwischen Ankara und Washington und der damit verbundene dramatische Wertverlust der türkischen Landeswährung in der türkischen Öffentlichkeit.

Begonnen hat alles mit der Entscheidung eines türkischen Gerichts, den in der Türkei inhaftierten US-amerikanischen Pastor Andrew Brunson nicht freizulassen. Damit begann eine sich immer rascher drehende Eskalationsspirale, die – so die Befürchtung – zu einem kompletten Bruch der Beziehungen der beiden NATO-Partner führen könnte. Unüberlegte Worte der beiden Egomanen-Präsidenten Trump und Erdoğan könnten das bereits lodernde Feuer zum Flächenbrand werden lassen.

Nach mehr als 21 Monaten in U-Haft war der evangelische Geistliche, dem „Terrorunterstützung“ vorgeworfen wird, unter Hausarrest gestellt worden (siehe Bulletin Nr.14/18). Washington hatte sich offensichtlich einen Freispruch erhofft. Der Geistliche sei „Opfer unfairer und ungerechtfertigter Strafverfolgung“ seitens der Türkei, hieß es aus dem Weißen Haus. Der 50-Jährige lebt mit seiner Ehefrau seit 20 Jahren in der Türkei und leitet in der ägäischen Metropole Izmir eine kleine Presbyterianer-Gemeinde. Ihm wird vorgeworfen, zugleich die kurdischen Separatisten der PKK und die Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich gemacht wird, unterstützt zu haben. Es sind Behauptungen, für die bisher die Belege fehlen. 

Der Fall Brunson zieht Sanktionen nach sich

Nach gegenseitigen verbalen Drohungen hat das Weiße Haus Sanktionen gegen Ankara verhängt, von denen zunächst der türkische Justizminister Abdulhamit Gül und Innenminister Süleyman Soylu betroffen waren. Beide werden beschuldigt, für Brunsons Festnahme sowie für „schwere Menschenrechtsverstöße“ in der Türkei verantwortlich zu sein. Im Rahmen der Sanktionen wurden die (potentiellen) Vermögen der beiden Minister in den USA eingefroren, und für US-Bürger jegliche geschäftliche Beziehung zu ihnen unter Strafe gestellt. Präsident Trump kündigte die Sanktionsmaßnahmen – wie gewohnt – über Twitter an. Dabei nannte er Brunson einen „großartigen Christen, Familienvater und wundervollen Menschen“. Trotz eines Treffens des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu mit seinem amerikanischen Amtskollegen Mike Pompeo kam es nicht zur erhofften Deeskalation. Ankara verurteilte die US-Maßnahmen scharf und kündigte selbst Gegenmaßnahmen an.

Die Sanktionen Trumps gegen die türkischen Minister sind für sich genommen belanglos, auf die Märkte jedoch wirkten sie verheerend. Die türkische Lira, die in den Monaten zuvor schon deutlich an Wert verloren hatte, begann dramatisch abzustürzen. Seit Jahresbeginn hat sie um knapp 40 Prozent an Wert eingebüßt. Für die Türkei ist die Entwicklung Gift. Sämtliche Importe – ob Öl, Maschinen oder landwirtschaftliche Produkte – sind merklich teurer geworden.

Noch kurz zuvor hatte es so ausgesehen, als hätten sich Washington und Ankara auf einen Deal geeinigt. Medienberichten zufolge sollte Brunson am 18. Juli freikommen und in die USA zurückkehren – im Gegenzug für die Überstellung des Bankiers Hakan Atilla aus den USA in die Türkei sowie der Empfehlung einer nur milden Geldstrafe für seine Halk-Bank. Der Manager der staatlichen Bank war in New York wegen Umgehung der Iran-Sanktionen zu 32 Monaten Haft verurteilt worden. Eine in Israel inhaftierte türkische Bürgerin kam im Rahmen dieses Deals frei, doch Ankara verlangte offenbar noch zusätzlich die Einstellung sämtlicher Ermittlungen gegen die Halk-Bank, was den Deal platzen ließ und zur anschließenden Eskalation führte.

Lira im freien Fall
Die Türkei reagiert auf die Verhängung der US-Sanktionen © Burak Su Wikimedia CC BY-SA 2.0 Wikimedia

Nach der Verhängung der US-Sanktionen antwortete Ankara mit gleicher Münze: „Bis gestern haben wir uns in Geduld geübt. Heute ordne ich an: Wir werden die Vermögen der amerikanischen Minister für Justiz und Inneres in der Türkei einfrieren, falls sie welche haben“, so Präsident Erdoğan. Er sprach von einem „Wirtschaftskrieg“ gegen sein Land. So habe der Putschversuch vom Juli 2016 die türkische Wirtschaft „zum Ziel gehabt“, sagte er bei der Vorstellung eines Aktionsplans für die nächsten hundert Tage seiner neuen Regierung. Zudem rief er seine Landsleute erneut zum Austausch ihrer Devisen-Ersparnisse in die Landeswährung auf: „Wenn Ihr Dollar, Euro oder Gold unter dem Kissen habt, geht zur Bank und tauscht sie in türkische Lira. Dies ist ein nationaler Kampf.“ Es sei eine Schande, dass Pastor Brunson den USA wichtiger sei als der strategische NATO-Partner Türkei. „Vergesst nicht: Wenn sie ihre Dollars haben, dann haben wir unser Volk, unseren Gott“, rief Erdoğan in Ordu an der Schwarzmeerküste seinen Anhängern zu.

Verantwortung für die Krise übernahm er nicht; er erhob stattdessen die USA und den Westen zum Feindbild. „Sie bedrohen uns“, sagte er mit Blick auf Washington. Die Türkei werde aber nicht nachgeben. „Man kann diese Nation nicht mit Drohungen zähmen.“ In Rize sprach er von „Kampagnen“ gegen die Türkei. Wurden bisher Drohungen und Sanktionen in diplomatische Formulierungen gekleidet, so nimmt Erdoğan mittlerweile kein Blatt mehr vor den Mund. Die Kugeln, Granaten, Raketen in diesem Krieg seien „Dollar, Euro oder das Gold“. Er drohte damit, denen ‚ „die Hände zu brechen, die diese Waffen abfeuern“. Er dementierte, dass die türkische Wirtschaft in einer Krise stecke: „Das ist keine Wirtschaft, die bankrottgeht, die untergeht oder die durch eine Krise geht“, so Erdoğan.

Lira-Verfall riskiert finanzielle Stabilität der Türkei

Türkische Wirtschaftsbosse, von denen bisher viele zu Erdoğans Unterstützern zählen, sehen offenbar die Sache etwas anders. Die Zeitung Sabah, Sprachrohr der Regierung, zitierte den Chef der Istanbuler Industrie- und Handelskammer, in der einige der wichtigsten Unternehmen des Landes organisiert sind, mit der Bitte um dringende Maßnahmen der Regierung. Der Lira-Verfall riskiere die finanzielle Stabilität des Landes. Laut Erdoğan, ein erklärter „Gegner der Zinsen“, ist die Lösung, die Zinsen zu senken und mehr zu produzieren. Er will, dass die Banken billige Kredite vergeben und so das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Damit liegt er seit Jahr und Tag diametral entgegengesetzt zur gängigen Wirtschaftslehre, die besagt, dass Zinserhöhungen die Währung stärken und die Inflation bekämpfen. Letztere hat in der Türkei offiziell die 15 Prozent-Marke erreicht. Anleger dagegen befürchten, dass es zu einer konjunkturellen Überhitzung kommen könnte. Eine deutliche Zinserhöhung könnte Experten zufolge den Währungsverfall bremsen. 

Auch der Besuch einer türkischen Delegation in Washington brachte offenbar nicht die erhofften Ergebnisse. Denn nur kurz darauf kündigte Trump eine Verdopplung der Strafzölle auf türkische Aluminium- und Stahlimporte an. „Ich habe gerade eine Verdoppelung der Zölle […] mit Blick auf die Türkei autorisiert, während deren Währung, die türkische Lira, schnell gegen unseren sehr starken Dollar fällt! […] Unsere Beziehungen zur Türkei sind nicht gut in dieser Zeit“, ließ Trump über Twitter wissen. Die neuen Raten betrügen nun 20 Prozent für Aluminium und 50 Prozent für Stahl. Zuvor hatte sich Ankara vergeblich um eine Verhandlungslösung bemüht. Nach Angaben des türkischen Handelsministeriums hat die Türkei im Jahre 2017 Eisen, Stahl und Aluminium im Wert von 1,1 Milliarden US-Dollar in die USA exportiert – 0,7 Prozent aller Ausfuhren.

Präsident Erdoğan warnte daraufhin vor einem Ende der Partnerschaft mit den USA und drohte die Suche nach Alternativen an. Sollte die US-Regierung die Souveränität seines Landes nicht respektieren, „dann könnte unsere Partnerschaft in Gefahr sein“, schrieb Erdoğan in einem Gastbeitrag der New York Times. Seine Regierung könne sich genötigt sehen, „die Suche nach neuen Freunden und Verbündeten zu beginnen“, so Erdoğan weiter. Des Weiteren beschuldigte er die US-Regierung, Fethullah Gülen, den Ankara für den Drahtzieher des Putschversuchs von 2016 hält, nicht auszuliefern und verglich den vereitelten Staatsstreich in seinem Land mit Pearl Harbour und dem 11. September.

Gleichzeitig präsentierte Finanzminister Berat Albayrak am 10. August das „neue Wirtschaftsmodell“ und bemühte sich sichtlich, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Das „neue Wirtschaftsmodell“, das Märkte und Investoren beruhigen sollte, blieb allerdings recht vage – was den Absturz der Lira weiter beschleunigte. Gleichzeitig gab Albayrak bekannt, dass er per Telefonkonferenz mit Investoren, u.a. aus den USA und Europa, sprechen werde.

In einer Rede vor Industriellen warnte Erdoğan die Anwesenden davor, nun zu den Banken zu laufen und ausländische Währungen zu kaufen: „Ihr würdet das Falsche tun, wenn Ihr auf diese Option zurückgreift, um auf der sicheren Seite zu sein.“ Es sei die Pflicht der Industriellen und Händler, diese Nation auf den Füssen zu halten. „Andernfalls müssten wir einen Plan B oder C umsetzen“, kündigte Erdoğan sibyllinisch an – und sorgte damit für Spekulationen über eine mögliche Beschlagnahme von Devisenkonten bei türkischen Banken.

Im vorerst letzten Kapitel des Streits zwischen Washington und Ankara hat Präsident Erdoğan am 14. August einen Boykott elektronischer US-Produkte und eine Erhöhung der Einfuhrzölle angekündigt. „Wenn die ihre IPhones haben, gibt es auf der anderen Seite Samsung, und wir haben unser eigenes Vestel“, sagte er mit Bezug auf den südkoreanischen IPhone-Rivalen und den türkischen Elektronikgerätehersteller. Vor Abgeordneten seiner Partei erklärte Erdoğan, es sei wichtig, an „unserer entschiedenen politischen Haltung“ festzuhalten. Er rief Unternehmen auf, ihre Investitionspläne in der Türkei nicht auf Eis zu legen. „Wenn wir unsere Investitionen verschieben, wenn wir unsere Währung aus Furcht in ausländische Währungen umtauschen, dann haben wir uns dem Gegner ergeben.“ Die Einfuhrzölle auf bestimmte US-Produkte wie PKWs, Alkohol und Tabak wurden drastisch erhöht. Für PKWs wird laut einem von Erdoğan unterzeichneten Dekret der Zoll auf 120 Prozent angehoben, bei alkoholischen Getränken auf 140 Prozent und bei Tabakwaren auf 60 Prozent. Auch für andere Waren gelten demnach künftig höhere Zölle, darunter Kosmetika, Reis und Kohle. Die USA hat wiederum ihrerseits mit weiterem wirtschaftlichem Druck gedroht, sollte Brunson noch länger festgehalten werden. Sollte sich hier in den kommenden Tagen oder in der nächsten Woche nichts ändern, würden die USA zusätzliche Maßnahmen einleiten, so ein Vertreter des US-Präsidialamtes.

Dr. Hans-Georg Fleck ist Projektleiter des Stiftungsbüros in Istanbul. 

Aret Demirci ist Projektkoordinator im Stiftungsbüro in Istanbul.

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