EN

Mein Leben mit und ohne Kopftuch

In Berlin verlasse ich meine WG mit offenen Haaren und Klamotten, die zum Wetter passen. In Kairo verlasse ich die Wohnung meiner Eltern mit Kopftuch und einem Mantel, der bis zum Knie reicht. Ein Doppelleben zwischen Deutschland und Ägypten.
heimat

Hend Taher, die Autorin (26) studiert Islamwissenschaften und arbeitet als freie Journalistin.

© Ali Ghandtschi, Tagesspiegel

Dieser Artikel wurde am Samstag den 16.06.2018 im Tagesspiegel veröffentlich und ist online auch hier zu finden.

Geboren und aufgewachsen bin ich in einer Familie in Kairo, die man hier in Deutschland als streng religiös bezeichnen würde. In Ägypten würde man sagen: anständige, religiöse Familie, die an der Tradition festhält. Diese Tradition besagt, dass die Wörter „selbstständig“ und „Frau“ nicht zusammenpassen. Das heißt: Meine Eltern sind für mich verantwortlich, bis ich heirate. Bis dahin muss ich zu Hause bleiben, und sie müssen mich versorgen. Anders als meine Brüder, die irgendwann selbstständige Männer werden.

So haben meine jüngeren und älteren Brüder gelernt, wie sie mit den Verkäufern und Menschen auf der Straßen umgehen. Sie durften schon von früh an mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Kairo fahren, bis zum Abend auf der Straße spielen, an Klassenfahrten teilnehmen, im Sommer arbeiten, mit Freunden etwas unternehmen und bei diesen manchmal übernachten.

Ich habe gelernt, wie ich mit dem Herd, der Nähmaschine und Kindern umgehen kann. „Du darfst alles machen, aber im richtigen, sicheren Rahmen“, sagt meine Mutter. Also: nur unter Frauen, islamisches Milieu, geschlossener, sicherer Ort, und meine Brüder – auch die jüngeren – haben mich hingebracht und abgeholt.

Die Ferien verbrachte ich in den Sommerschulen der Moscheen in unserer Nähe und des privaten islamischen Trägers, wo ich auch Sport trieb. Oder ich habe Freundinnen zu Hause besucht. Im geschlossenen Bad für Frauen sind wir öfters Schwimmen gegangen.

Mit dem öffentlichen Verkehr bin ich zum ersten Mal während meines Abiturs gefahren, von zu Hause zur Schule und zurück.Während des Studiums durfte ich langsam am Abend nach Hause kommen und in Kairo mit meinen Freundinnen unterwegs sein. Natürlich nur dort, wo meine Eltern es erlaubten. Darüber habe ich viel mit meinen Eltern gestritten, in der Schule und Universität mit allen darüber diskutiert.

Ich gehöre woanders hin, das habe ich immer gespürt.

hend
Hend Taher

Keiner hat das Thema so ernst genommen wie ich. Unter meinen Freundinnen war ich fast die einzige, der das Thema Freiheit wichtig war. Sie nannten mich „verrückt“, „unrealistisch“ und sagten über mich, ich „hätte lieber ein Mann werden wollen“. Sie passten sich einfach an. Ich fühlte mich befremdet und unverstanden. Ich gehöre woanders hin, das habe ich immer gespürt.

Es gibt so ein Muster, wie eine Frau sich anziehen und verhalten soll. Was sie machen darf und was nicht: möglichst unauffällig sein, mit Männern distanziert umgehen, nicht rauchen, nicht laut lachen, nicht Fahrrad fahren, bedeckte Kleidung anziehen ... und so weiter. In der Schule und auch zu Hause wurde sich daran streng gehalten. In der fünften Klasse habe ich zum Beispiel Ärger von meinem Lehrer bekommen, da er meine Bewegungen als Tanzen wahrgenommen hatte. Genauso vom Busfahrer. Eigentlich war ich nur mit anderen Mädels gehüpft.

Mit der Zeit habe ich gelernt, mich an dieses Muster zu halten. Dabei habe ich meinen Charakter verloren. Ich bin lebensfroh, lache gerne, rede mit jedem, bewege mich viel und mache gerne Quatsch. Ich habe gelernt, mich umzustellen und aufzupassen, was ich erzähle. In meinem Umfeld war nicht in Ordnung, dass ich männliche Freunde habe, Musik höre, Kinos besuche und vieles tue, was meine Eltern nicht wissen. Nach dem Abi fing ich mein Studium an un habe ein Stipendium für einen einmonatigen Sprachkurs in Deutschland bekommen. Nach heftigem Streit mit meinen Eltern durfte ich reisen. Da war ich zum ersten Mal allein und frei.

Vom Hauptbahnhof Frankfurt habe ich den Zug nach Mannheim genommen. Da habe ich ein junges Mädchen getroffen – sie war vielleicht 16 Jahre alt – , das auf dem Weg nach Heidelberg war, um einen schönen Tag mit seinen Freundinnen zu verbringen. „Einfach so?“, habe ich sie gefragt. Sie hat nicht verstanden, was ich damit meinte.
Im Sprachkurs habe ich andere junge Frauen getroffen. Wir redeten über unsere eigenen Meinungen, Reisewünsche und Karriereträume. Träume, die keine Grenzen oder Anpassungen kennen. Ich war mir sicher: Ich bin hier am richtigen Ort. Ich möchte nach meinem Studium hierher kommen. Wir haben vieles unternommen. Ich musste nicht meine Eltern um Erlaubnis fragen, musste keine Diskussionen führen und sie konnten mich nicht ständig anrufen, um zu fragen, wo ich jetzt genau bin, mit wem, seit wann, warum, warum so lange und wann ich nach Hause komme.
 

Überhaupt achtete keiner auf mein Verhalten. Auf der Straße bin ich gesprungen, gerannt, habe laut gelacht, mit anderen im Bus oder Zug geredet. Am letzten Tag traute ich mich, mich auf die Wiese unter einen Baum zu legen. Ich guckte in den freien blauen Himmel und dachte mir, hier ist das Paradies.Nach dem Studium habe ich rebelliert. Mit 23 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen und habe hier ein freies, selbstständiges Leben begonnen. Ein Leben, in dem ich allein über mich bestimme. Ich fühlte mich wie ein freier Vogel, der noch nicht gut fliegen kann. Ich muss jetzt Entscheidungen treffen, Situationen einschätzen und Probleme lösen.

Als ich zum ersten Mal nach Deutschland kam, sah ich: Hier tragen die Frauen in der Öffentlichkeit Kleider, die ich nicht mal im Haus tragen darf! Drei Jahre später, als ich nach Deutschland gezogen bin, konnte ich mich plötzlich mit dem Kopftuch nicht mehr identifizieren. Kurz danach habe ich es abgelegt. Ich hatte seit meiner Kindheit Kopftuch getragen, zuerst in der Moschee, dann in die Schule, dann immer – ohne Zwang, es war einfach normal, denn fast alle Frauen in meiner Umgebung trugen mindestens ein Kopftuch oder auch eine Burka. Als ich das Kopftuch ablegte, wollte ich mich vielleicht von meinem alten Leben abgrenzen. Ich wollte nun mit einem Kleid am See spazieren gehen. Das habe ich auch gemacht, ohne Ärger zu bekommen. Dann kam die nächste Frage: Wie möchte ich nun jetzt aussehen? Mit der Zeit habe ich einen eigenen Stil gefunden, der zu mir passt.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Es dauerte nicht lange, bis ich einen Wandervögel-Mädchenbund kennengelernt habe. Starke Frauen, die ohne Eltern, Männer oder deren Erlaubnis oder Begleitung wandern gehen. Überall auf der Welt. Einfach so. Bald durfte ich mit ihnen nach Schweden wandern gehen. Wir sind getrampt, in Seen geschwommen und haben draußen geschlafen. Ohne Handy, ohne Uhrzeit. Ich war frei. Ich war glücklich. Sehr glücklich.

Meine Familie akzeptiert inzwischen, dass ich in Deutschland ein anderes Leben habe. In Deutschland, nicht in Kairo. Dort sollen wir weiterhin möglichst wie eine ganz normale Familie erscheinen. Es heißt dann: Sie studiert im Ausland, was in unserem Umfeld komisch klingt, aber noch geht. Keiner soll wissen, dass ich in einer gemischten WG lebe und kein Kopftuch mehr anziehe. Das passt nicht zu meinem Vater, der religiös ist. Und nicht zu meiner Mutter, die eine schwarze Burka trägt.

So haben wir einen Kompromiss gefunden: in unserem Wohnviertel bin ich verschleiert – auch bei Familienbesuchen –, treffe keine männlichen Freunde und komme spätestens um Mitternacht zurück. Sonst würden meine Eltern sich Kommentare hören müssen wie „Haben sie denn keine Kontrolle über sie oder was?“; „Die macht ja, was sie will, als ob sie keine Eltern hat“. Erst wenn ich heirate, kann ich mich anders verhalten. Dann soll die Verantwortung für mich bei meinem Mann liegen.

In den Ferien fliege ich zurück nach Kairo. Im Flughafen lege ich das Kopftuch und den Mantel an. Und ich passe mich an das Frauenmuster an. Ich freue mich auf alles und fühle mich besonders verbunden mit der Stadt, mit der die Sprache, mit den Geräuschen, Gerüchen und dem Geschmack des Essens. Mit meiner Familie und meinen Freunden verbringe ich eine schöne und wertvolle Zeit. Nun werde ich immer wieder gefragt, warum ich das Kopftuch abgelegt habe, ob ich noch an den Islam glaube, Alkohol trinke oder Schwein esse. Und noch ein sehr wichtiges Thema: warum ich bis jetzt keinen Mann habe, ob ich es mir vorstellen kann, einen zu heiraten, der nicht Muslim nicht Ägypter ist. Wer ich wirklich bin und was ich sonst im Leben tue, wird dort nicht wertgeschätzt. Ich werde nach meinem Aussehen klassifiziert und behandelt. Ich treffe dort wenige Leute, die mich verstehen und akzeptieren. Tatsächlich bin ich nie in Kairo richtig angekommen. Und ich werde dort mit vielem aus meiner Vergangenheit konfrontiert. Mit den meisten meiner Freundinnen kann ich nicht abends draußen sein, nicht weit weg etwas unternehmen und auf keinen Fall reisen. Das entscheiden schon ihre Ehegatten. Die Männer einiger meiner Freundinnen haben ihnen verboten, den Kontakt zu mir zu halten oder mich zu besuchen.

Viele Freundinnen besuche ich in ihren Wohnungen, wo die Vorhänge zu sind, damit die Nachbarin sie nicht ohne Kopftuch sehen. Manchmal soll ich das Kopftuch dabei anlegen, damit sie keinen Stress mit ihren Eltern bekommen. Dann fühle ich mich eingeschränkt, nicht respektiert und nicht wohl. Denoch: Mir ist es sehr wichtig, eine enge Verbindung zu meiner Heimat zu halten.

Es dauert immer nicht so lange, bis ich wieder nach Berlin zurück komme. Nach Hause. Ich atme tief durch und fühle mich entspannt. In meinem Zimmer mache erst mal ich die Vorhänge auf, drehe den Fahrradschlüssel wieder auf meinen Schlüsselbund. Und ich hänge den Mantel und das Kopftuch an die Garderobe, wo sie bis zum nächsten Kairobesuch bleiben.

Die Autorin (26) studiert Islamwissenschaften und arbeitet als freie Journalistin. Der Text entstand im Rahmen des Exiljournalisten-Projekts des Tagesspiegels #jetztschreibenwirAm 16. Juni erschien eine neue Beilage der Exiljournalisten zum Thema „Heimaten“.