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Türkei
Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei – 60 Jahre Erfahrung und gegenseitiger Mentalitätstransfer

Strassenszene im Berliner Stadtteil Neukölln, aufgenommen am 27.02.2017
picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel

Die Zahl der türkeistämmigen Personen in Deutschland, von denen man ursprünglich annahm, sie würden nach getaner Arbeit mit dem verdienten Geld wieder zurückkehren, betrug im Jahr 1961 lediglich 5.193. Diese Zahl kletterte im Jahr 1973 auf 910.000 und überstieg in den 2000er Jahren drei Millionen. Über die Hälfte der Menschen mit Wurzeln in der Türkei sind heute deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und somit ein fester Teil Deutschlands.

Diese Entwicklungen hatten einen gegenseitigen „Mentalitätstransfer“ nicht nur zwischen beiden Kulturen, sondern auch zwischen beiden Ländern zur Folge. Rückkehrer eingeschlossen, können heute sieben bis acht Millionen türkeistämmige Menschen auf Erfahrungen mit Deutschland verweisen. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf die Beziehungen beider Länder aus. Es ist bezeichnend, dass außerhalb von Deutschland, Österreich und der Schweiz die meisten deutschsprechenden Menschen in der Türkei leben.

Die Beiträge, die türkeistämmige Zuwandererinnen und Zuwanderer in diesen 60 Jahren für beide Gesellschaften – sowohl die deutsche als auch die türkische – geleistet haben, sind von besonderer Bedeutung. Man kann von einem neuen gesellschaftlichen Leben sprechen, welches vom Mentalitätstransfer in vielen Bereichen profitiert hat – vom „Döner“ und „Bezahlen auf deutsche Art“ (nämlich jeder zahlt im Restaurant für sich selbst) über die Art, Politik zu gestalten, den Stellenwert der Frau im Arbeitsleben bis hin zu kulturellen Artefakten und der Bereicherung der Sprache.

Verständlicherweise denken wir bei Menschen mit türkischen Wurzeln oft zuerst an populäre und erfolgreiche Personen wie Cem Özdemir, Aydan Özoğuz, Fatih Akın, Mesut Özil, Özlem Türeci und Uğur Şahin. Tatsächlich macht die Präsenz türkeistämmiger Menschen in Deutschland aber viel mehr aus als nur einige prominente Namen. Vielleicht kennen wir die Namen der mutigen Menschen nicht, von denen viele aus einer dörflichen Umgebung nach Deutschland migriert sind und sich dort behauptet haben, ohne jemals zuvor eine große Stadt gesehen zu haben; Menschen, die unermüdlich gearbeitet und im Schweiße ihres Angesichts ihr Geld verdient haben und darüber hinaus wesentlich an der Wertschöpfung der deutschen und der türkischen Wirtschaft mitgewirkt haben. Ihr Beitrag ist ohne Zweifel sehr wertvoll.

Das Deutschlandbild, das diese Menschen in der Türkei vermittelt haben, umfasste zahlreiche neue und fremde Sichtweisen auf Arbeitsleben, Familienstruktur, die Art, Politik zu gestalten, auf Infrastruktur, Zivilgesellschaft und die Rolle der Frau. Deutsche Wertvorstellungen wurden zu Hause in der Türkei quer durch die Familien kontrovers diskutiert; die Gespräche darüber öffneten für die türkische Gesellschaft ein Fenster zum Westen. Dieses Fenster diente gleichzeitig als Spiegel zur Reflektion der eigenen, türkischen Gesellschaft. Während manche ihre Kinder zurück zu Verwandten im Herkunftsland schickten aus Sorge, sie würden aufgrund der deutschen Gesellschaftsstruktur „verkommen“, hat eine größere Gruppe das Leben in Deutschland angenommen. Sie waren stolz auf ihre Kinder, die in Deutschland ausgebildet wurden und die Karriereleiter aufstiegen.

Die durch das Anwerbeabkommen geprägten Lebenswege waren oft nicht einfach, doch am Ende entstand eine Erfolgsgeschichte. Und ungeachtet der großen Kultur- und Mentalitätsunterschiede ist diese Geschichte ein gemeinsamer Erfolg beider Gesellschaften.

Probleme, mit denen türkeistämmige Menschen in Deutschland zu kämpfen haben

Dies alles bedeutet nicht, dass es keine Probleme gibt, auch wenn Integration und Zusammenleben mittlerweile gut funktionieren. Wir können nicht ignorieren, dass türkeistämmige Menschen im Bildungs- und Berufsleben unterdurchschnittlich repräsentiert sind, dass sie Diskriminierung erfahren, die immer wieder in Rassismus ausartet, dass es politische Instrumentalisierung von Zuwanderern gibt bis hin zu unmittelbaren physischen Angriffen. Auch wenn die türkische Gesellschaft auf rassistische Gewalttaten wie in Solingen und Mölln oder auf die durch Neonazis begangenen Morde mit Besonnenheit reagiert hat, haben diese Taten auch Schwächen des deutschen Staates offengelegt. Besonders bedauerlich ist es, dass zugewanderte Menschen – wie überall auf der Welt – sowohl im Herkunfts- wie auch im Einwanderungsland politisch instrumentalisiert werden. Diese Situation führt oft dazu, dass sie sich zwischen zwei Gesellschaften und Staaten eingezwängt fühlen.

An dieser Stelle seien zwei Probleme angesprochen, mit denen türkeistämmige Menschen in Deutschland zu kämpfen haben. Eines davon betrifft die dauerhafte Präsenz von Debatten über interne politische Themen der Türkei auf der deutschen Tagesordnung. Das zweite Problem geht auf die seit dem Ende des Kalten Krieges ansteigende Angst vor muslimischen Einwanderern in Europa zurück. Beide Probleme führen zu einer unverdienten Marginalisierung türkischer Einwanderer, die seit so vielen Jahren in Deutschland leben.Nach 60 Jahren ist es eindeutig, dass der gegenseitige Mentalitätstransfer ungeachtet aller Probleme und auch Barrieren das wichtigste Verdienst in diesem Prozess darstellt. Beide Länder und Gesellschaften sollten den Deutschtürkinnen und Deutschtürken den verdienten Respekt entgegenbringen und ihnen für diese Bereicherung dankbar sein.

Diese Menschen als „weder türkisch noch deutsch“ zu bezeichnen, ist unfair. Sie haben eine universelle Einwandereridentität mit einer transformativen und bereichernden Essenz, die sowohl türkisch als auch deutsch ist.

Die 60 Jahre sind nicht ohne Schmerzen vergangen, aber am Ende des Tages haben sich die türkeistämmigen Menschen für ein Leben in Deutschland entschieden, und dafür, Deutschland „Heimat“ zu nennen, auch wenn es zuweilen eine schmerzhafte Heimat ist.