Georgien
Nach Präsidentschaftswahl: Georgien noch auf dem Weg nach Europa?
Salome Surabischwili wird die neue Präsidentin Georgiens. Nach Angaben der zentralen Wahlkommission des Landes kam die von der Regierungspartei Georgian Dream (GD) unterstützte, eigentlich unabhängige Kandidatin in der Stichwahl am 28. November auf 59,52 Prozent der abgegebenen Stimmen; der Oppositionskandidat Grigol Waschadse von der United National Movement (UNM) erhielt 40,48 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 56 Prozent und damit fast 10 Prozent höher als im ersten Wahlgang. Der große Vorsprung von Surabischwili hat viele überrascht – lag doch der Abstand zwischen den beiden Erstplazierten im ersten Wahlgang bei nicht einmal einem Prozent (38,64 zu 37,74 Prozent). Auf Platz 3 folgte damals der Kandidat der UNM-Abspaltung European Georgia, David Bakradse, mit 10,97 Prozent. Er hatte seine Anhänger dazu aufgerufen im zweiten Wahlgang für Waschadse zu stimmen. Eine Wahl mit vielen Fragezeichen – Beobachtungen und Einschätzungen vom Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann
Oppositionskandidat: Wir erkennen Wahl und Ergebnis nicht an
Es war kurz nach 20 Uhr, als der Vorsitzende der Regierungspartei „Georgian Dream“, Bidsina Iwanischwili, mit relativ finsterem Gesichtsausdruck vor die Kameras trat und sich bei „seinen“ Wählern bedankte. Kurz zuvor hatten zwei TV-Sender ihre Umfrage-Ergebnisse veröffentlicht, die einen deutlichen Sieg der von seiner Partei unterstützten Kandidatin voraussagten. Noch nie waren sich regierungsfreundliche und oppositionelle TV-Sender so nahe mit ihren Zahlen und so eindeutig im Ergebnis. Wahrscheinlich war der Milliardär und als eigentlicher Regierungschef geltende Iwanischwili selbst überrascht von dem großen Vorsprung „seiner“ Kandidatin Salome Surabischwili. „Freude über den Sieg sieht anders aus“, kommentierte die Moderatorin des der Opposition nahe stehenden TV-Senders „Rustavi 2“ den Auftritt.
Kurz darauf ließ sie den ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili aus dem Exil zu Wort kommen, der zu zivilem Ungehorsam aufrief – unabhängig von dem Ergebnis. Georgien müsse gerettet werden: „Wir sollten zusammenstehen und über das Schicksal Georgiens in den kommenden Tagen nachdenken”, so der Ex-Präsident, der gleichzeitig Polizei und Militär aufforderte, sich von der „kriminellen Mafia” fernzuhalten. Auch der Vorwurf der Wahlmanipulation wurde von Vertretern der Opposition geäußert. Am Abend nach dem Wahltag verkündete Waschadse: „Wir erkennen die Wahl und ihr Ergebnis nicht an.“ Georgien habe keinen neuen Präsidenten. Er bekräftigte unter dem Jubel seiner Anhänger in der Tifliser Philharmonie sein Ziel, vorgezogene Parlamentswahlen abhalten zu wollen und rief zu einer Protestkundgebung am Sonntag auf der zentralen Rustaveli Avenue in der georgischen Hauptstadt auf. Er betonte, dass diese Aktion friedlich verlaufen werde.
OSZE: „Ein übermäßiger Vorteil der einen Seite“
Auch wenn der Vorwurf der Manipulation auf den direkten Wahlverlauf im technischen Sinne sicher nicht zutreffend ist, muss man doch die Frage stellen, in wie weit dieses Wahlergebnis eine Folge von verschiedenen Arten von Beeinflussung ist. Betrachtet man das Ergebnis des ersten Wahlganges, bei dem der Unterschied der beiden Erstplazierten nicht mal ein Prozent betrug, erstaunt es schon, dass der Unterschied in der Stichwahl von etwa 20 Prozent so eindeutig zu Gunsten der von der Regierungspartei unterstützten „unabhängigen“ Kandidatin Salome Surabischwili ausgefallen ist.
Einen „guten Wahlverlauf“ und „positiven Wahlprozess“ attestierten die OSZE-Wahlbeobachter in ihrer Stellungnahme am Tag danach, bemängelten aber den „übermäßigen Vorteil“ der einen Seite und die negativen Wahlkampagnen und scharfe Rhetorik auf beiden Seiten, die den Wahlprozess überschatteten. Durch den Missbrauch von staatlichen Ressourcen sei die Grenze zwischen Kandidatin, Partei und Staat verwischt worden. In diesem Zusammenhang sollte auch angemerkt werden, dass die führenden Köpfe des Surabischwili-Wahlkampfteams der Tifliser Bürgermeister Kacha Kaladse sowie der Parlamentspräsident Irakli Kobachidse waren – beide in Ämtern, die sich nicht unbedingt mit ihrer Scharfmacherrhetorik im Wahlkampf vertragen.
NGOs: Einschüchterung und Druck auf Wähler
Am Vorabend der Wahl konstatierten drei angesehene Nichtregierungsorganisationen ein stark polarisiertes Vorwahlumfeld. In einer gemeinsame Erklärung von ISFED (International Society for Fair Elections and Democracy), GYLA (Georgian Young Lawyers' Association) und TI Georgia (Tranparency International) hieß es, der Wahlkampf sei von negativen Kampagnen mit aggressiver Rhetorik, Hassreden, Konfrontation und extremer Polarisierung gekennzeichnet gewesen; die Medien parteiisch auf der einen oder anderen Seite.
Das Fehlen von Kandidatendebatten hätte die Wähler daran gehindert, eine informierte Entscheidung treffen zu können. Die NGOs betonten, dass die von der Regierungspartei geschürten Ängste vor der Möglichkeit eines Bürgerkrieges alarmierend gewesen seien und dokumentierten eine deutliche Zunahme von gewalttätigen Aktionen – fast ausschließlich auf Anhänger der Opposition. Weiterhin ist in der Erklärung die Rede von Einschüchterung und Druck auf Wähler – beispielsweise auf Angestellte von Gemeindebehörden, sozial schwächere Wähler und ehemalige Straftäter -, um zugunsten von Salome Surabischwili zu stimmen.
Kritisiert wurde auch die Durchführung der Stichwahl an einem Wochentag. Dieser wurde von der Zentralen Wahlkommission (CEC) überraschend auf einen Mittwoch (28.11.2018) gelegt. Lange war man vom 02.12.2018 ausgegangen, einem Sonntag. Opposition und viele NGOs protestierten mit der Begründung, dass es an einem Wochentag vielen Arbeitnehmern nicht möglich sei, die Wahllokale ihrer Heimatorte aufzusuchen, in denen sie registriert sind – auch wenn der Tag „arbeitsfrei“ deklariert wurde. Klagen wurden jedoch abgewiesen. Hintergrund war die Vermutung, die Stimmabgabe an einem Wochentag diene lediglich der Kandidatin der Regierungspartei. Obgleich auch für die Wahlbeobachter der Stiftung für die Freiheit die mit Namenslisten ausgestatteten „Koordinatoren“ der Georgian Dream-Partei vor vielen Wahllokalen unübersehbar waren, lässt sich diese Anschuldigung nicht überprüfen.
Entschuldung von Hunderttausenden
In der Erklärung von ISFED, GYLA und TI wurden auch von GD-Aktivisten angebotene Geldsummen und Nahrungsmittel und das von der Regierung angekündigte „Schuldenabschreibungsprogramm“ erwähnt. Genau zehn Tage vor dem Termin der Stichwahl verkündete die Regierung, für über eine halbe Million Georgier, die auf einer so genannten „schwarzen Liste“ stehen, die Bank-Schulden in Höhe von 1,5 Milliarden georgischer Lari (etwa 500 Millionen Euro) tilgen zu wollen. Übernommen werden soll das Schuldenpaket von der privaten Cartu-Stiftung, die Stiftung einer privaten Bank, die zum Firmenimperium des Parteivorsitzenden des Georgischen Traumes, Bidsina Iwanischwili, gehört.
Der Leiter der wahlbeobachtenden Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), Andrej Hunko, stellte fest, dass „die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen die von der PACE-Delegation nach der ersten Runde geäußerten Besorgnisse bestätigt hat – insbesondere das überraschend großzügige System der Wahlkampf- und Parteifinanzierung aus dem Staatshaushalt und private Spenden. Außerdem kann man den Zeitpunkt der Ankündigung einer Entschuldungsaktion für Hunderttausende Wähler, die von einer Privatperson – dem Vorsitzenden der Regierungspartei – finanzierten Stiftung bezahlt wird, kurz vor der zweiten Runde in Frage stellen“. Er fügte hinzu, dass „diese zunehmende Rolle des Geldes in der Politik in einem Land mit hoher Armut und ohne effiziente Kontrollmechanismen nicht zum Vertrauen der Öffentlichkeit in demokratische Wahlen beigetragen hat.“
Scheidender Präsident: Qualitätsverlust der Demokratie
Der noch amtierende Präsident Giorgi Margwelaschwili bewertete den zweiten Wahlgang folgendermaßen: „Aufgrund der Beobachtung der gestrigen Wahlen und der Analyse der Bewertungen von Beobachterorganisationen möchte ich meine Besorgnis über den Qualitätsverlust der Demokratie in der zweiten Runde zum Ausdruck bringen – und unmissverständlich sagen, dass Wahlen unter solchen Bedingungen in Georgien nicht mehr abgehalten werden sollten.“ Margwelaschwili trat nicht erneut an. Der Philosoph, 2013 als Kandidat des Georgian Dream nominiert und gewählt, wurde - nachdem er dem Amt seine persönliche Note gab, eigene Entscheidungen traf und sich nicht zur Marionette degradieren ließ - zu einem Hauptfeind der Regierungsmehrheit erklärt. Er hat angekündigt, sich vollständig aus der Politik zurückzuziehen.
Es ist schwer nachvollziehbar, warum der Wahlkampf um das georgische Präsidentenamt in dieser Härte und in dieser Form ausgetragen worden ist. Nach einer Verfassungsänderung im Jahr 2017 hat der Präsident künftig nur noch eine überwiegend repräsentative Funktion. Viele seiner Befugnisse kann er nur mit Zustimmung der Regierung ausüben. Unbenommen ist ihm das Recht zur Begnadigung von Verurteilten. Dies wurde im Wahlkampf von Regierungsseite zum Anlass genommen, Ängste zu schüren, dass bei einem Wahlsieg Waschadses „die Dämonen und das Böse der Vergangenheit zurückkehren würden“. Nicht nur zahlreiche Plakate verkündeten diese Nachricht landesweit; auch nahezu jeder Besitzer eines Mobiltelefons mit georgischer Nummer erhielt SMS mit einem diesbezüglichen Hinweis – und das auch selbst noch am Wahltag (Wortlaut der versendeten SMS: 1. „Sag nein zum Bösen, sag nein zu Lügen, sag nein zur Gewalt. Wähle Ehre, Freiheit und Entwicklung. Stimme am 28. November für Liste 48.“
2. „Nein zur Nationalbewegung, nein zum Bösen, Stimme am 28. November für
Liste 48.“ 3. „Bleib nicht zuhause. Lass nicht zu, dass die Gewalttäter gewinnen
und gebe Deine Stimme Liste 48.“ Der Absender: Nummer 48, der Listenplatz Salome Surabischwilis).
Ein Wahlbetrug am ganzen Volk
Insgesamt haben die Wahlen ein katastrophales Bild von Georgien hinterlassen. Man könnte sich die Frage stellen, ob die derzeitigen politischen Entscheidungsträger des bisherigen „Musterlands“ der Region überhaupt noch das Ziel haben, zur europäischen Familie gehören zu wollen. In einem Land, in dem ein Oligarch nach Belieben die Fäden in Politik und Wirtschaft zieht, es immer mehr nach Gutsherrenart entsprechend seinen Vorstellungen lenkt, ist von europäischen Werten – zumindest was die politische Kultur betrifft – kaum noch etwas zu spüren. Womit man wieder auf den Begriff Manipulation zurückkommen muss: Der Versuch, eine große Bevölkerungsschicht, durch einen wie immer gearteten Schuldenerlass zu bestechen, ist ein Wahlbetrug am ganzen Volk. Im Nachbarland Armenien – wo in wenigen Tagen ein neues Parlament gewählt wird – hat das Überdrehen der Schraube durch die damals herrschende Elite zur friedlichen samtenen Revolution geführt.
Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.
Götz-Martin Rosin ist Journalist bei der Kaukasischen Post.