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Menschenrechte
Offener Brief an meinen Folterer 

Zum Internationalen Tag zur Unterstützung der Folteropfer
Paris, Anschläge, Terror, Deutschland, Freiheit, Demokratie, Stiftung für die Freiheit, Leutheusser-Schnarrenberg
© CC BY 2.0 Nicu Buculei / Flickr/ bearbeitet

Die Friedrich-Naumann.Stiftung setzt sich weltweit für Bürger- und Menschenrechte und damit auch immer wieder für Opfer von Folter ein. Anlässlich des diesjährigen Tag gegen die Folter veröffentlichen wir erneut den "Offenen Brief an meinen Folterer" von Salah El Ouadie aus dem Jahr 1999, den unser Stiftungskollege Olaf Kellerhof 2017 erstmalig ins Deutsche übersetzt hat. 

Offener Brief an meinen Folterer 

Salah El Ouadie (1999)

Dies hier ist ein Brief von einem Bürger adressiert an einen hohen Beamten. Er geht von einer Grundannahme aus: die raison d’être eines Staates ist es, die Menschen, ihr Gut, ihre Sicherheit zu schützen. Er behandelt ein Thema, das aus dem Rahmen fällt.

Dies ist ein Beitrag, der vorsätzlich ein Thema hervorhebt, das lange Zeit die Marokkaner terrorisiert hat, deren Leben davon tief gekennzeichnet wurde. Er stammt von einem Bürger, der fest davon überzeugt ist, dass von diesem Thema zu sprechen, eine moralische Verantwortung gegenüber den Bürgern, den bekannten und unbekannten Opfern, der heranwachsenden Generation und dem Staat selbst ist. Sein Autor gehört zuerst und vor allem einer Generation an, für die die Demokratie nur die Souveränität des Rechts und vor ihr die Gleichheit des Menschen, ohne Unterscheidung, bedeuten kann.

Dies ist ein Brief, herausgerissen aus der Stille, der sich auf eine einfache Frage beschränkt: Kann die Freiheit mit dem Terror koexistieren? Dies ist ein Brief, der den Schleier lüftet und sich dem Programm der Transparenz verschreibt, brennend aber lebensnotwendig für eine Demokratie, die weder trügerisch, noch vorgeblich, noch wirklich ist.

Können alle Formen der Freiheit, verkündet durch internationale und durch Marokko ratifizierte Vereinbarungen, mit dem jüngsten Erbe des Terrors, der Angst und der Finsternis koexistieren?

In dem Moment, in dem sich Marokko an der Schwelle seiner demokratischen Transition befindet, können wir da von Demokratie sprechen, während unser Land noch nicht das Kapital auf dem Schreckenskonto bereinigt hat, das die Herzen jahrzehntelang verzeichneten und eine Selbstzensur in einem omnipräsenten und allmächtigen System etablierte hat?

Können wir von gemeinsamer Staatsbürgerschaft sprechen, während die Gefolterten von widerwärtigen Narben auf Körper und Seele gezeichnet sind und ihre Folterer von dunklen Albträumen heimgesucht werden?

Können wir ein neues Kapitel aufschlagen, während wir immer die Netzwerke der Folter und Entführung, die von jetzt an Teil einer Vergangenheit sind, oder wenn sie immer noch, wie zuvor, außerhalb des Gesetzes aktiv sind, ignorieren?

Nein, sehr geehrter Herr!

Eine öffentliche Gegenüberstellung, ohne Mittler, ist unabdingbar. Weil diese Frage alle Marokkaner angeht, ihre Zukunft, das heißt die ihrer Kinder, inklusive der ihrigen und der meinigen... Aber vielleicht weisen Sie mich nicht ab, wenn ich jetzt beginne! Ich werde Ihr Gedächtnis auffrischen, trotz meiner Überzeugung, dass Sie sich meiner gut erinnern, und zwar aus einem einfachen Grund: Ihre Funktion erfordert ein exzellentes Erinnerungs vermögen an Namen und Vornamen, an Häute, an Gerüche, selbst an Schönheitsflecken bis hin zum Intimbereich. Ich vermute, dass Sie sich mehr unserer Körper erinnern als unserer Gesichter, denn vor Ihnen waren die Gesichter immer von einem weißen Leintuch, Augenbinde genannt, bedeckt. Mein Brief wird Ihnen sicher weh tun. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit und Sie müssen mir bis zum Schluss zuhören.

Den vollständigen Brief von Salah El Ouadie finden Sie im folgenden "Fokus Menschenrechte".