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Türkei
Steht Erdogan vor einem zweiten Gezi?

Hans-Georg Fleck analysiert die Protestwelle gegen Abholzungen im Ida-Gebirge
Ida Gebirge

Menschen protestieren gegen die Abholzung am Ida-Gebirge.

© picture alliance / AP Photo

In der Türkei rollt im Moment eine grüne Protestwelle, wie sie das Land seit den Protesten gegen die Bebauung des Istanbuler Gezi-Parks im Jahre 2013 nicht mehr erlebt hat. Grund ist die großflächige Abholzung am Ida-Gebirge im Westen der Türkei. Das Gelände wurde von der kanadischen Firma Alamos Gold im Jahre 2010 für 90 Millionen US-Dollar erworben; 2017 wurden die ersten Bäume gefällt. Dabei ist diese Mine nicht die einzige ihrer Art in dem Gebiet. Das Forstwirtschaftsministerium soll hunderte weitere Lizenzen zum Abbau von Gold an Bergbauunternehmen vergeben haben.

Die Proteste vom Ida-Gebirge erinnern an die Aktionen der Dorfbewohner der Region Bergama etwa 100 Kilometer nördlich der Ägäismetropole Izmir. Im Jahre 1996 hatten sie versucht, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die großflächige Abholzung der Wälder in ihrer Region und die Nutzung von hochgiftigem Zyanid zur Goldgewinnung zu lenken.

Die Region um das seit der Antike berühmte Ida-Gebirge ist bekannt für ihre außergewöhnliche Artenvielfalt an Pflanzen, Vögeln, Insekten und Reptilien. Einige sind sogar endemisch, kommen also weltweit nur dort vor. Die Region gehört zu den wenigen „grünen Lungen” des Landes.

Seit die Luftbilder der abgeholzten Landschaft unweit der kleinen Ortschaft Kırazlı bei Çanakkale erstmals in den sozialen Medien auftauchten, entlud sich – zunächst in der online – eine große Empörung, die jedoch bald in die reale Welt überschwappte. Nachdem zunächst nur eine Handvoll Umweltaktivisten sogenannte „Wasser- und Gewissenswachen” abhielten, strömten schon bald tausende Menschen zum Bauplatz, wo die kanadische Firma nach Gold schürft. Mit Hilfe des Hashtags #kazdaginadokunma (“Fass’ den Ida-Berg nicht an”) wurden auf Twitter mehr als 10.000 Menschen mobilisiert, die sich dem Protest anschlossen. Viele prominente Gesichter aus der Theater-, Film- und Fernsehwelt unterstützten mit ihren Posts die Aktion. Die Aktivisten hinderten die Arbeiter daran, die Goldsuche fortzusetzen.

Zeltlager ist entstanden

Mittlerweile ist ein großes Zeltlager entstanden, das auch über einen Gemeinschaftsraum und Essensstände verfügt. Die Mahnwachen werden seit über 18 Tagen unweit der Baustelle abgehalten.

Die Behörden behaupten, es handele sich bei den bergbaulichen Erschließungen weder um den für die hiesige Flora und Fauna wichtigen Bergzug Kaz Dağları, noch seien 195.000 Bäume, wie behauptet, gefällt worden. Allenfalls seien 13.000 Bäume betroffen, und außerdem seien andernorts bereits 14.000 Setzlinge für die gefällten Bäume gepflanzt worden. „Die Türkei ist sehr achtsam, was die Natur betrifft”, so AKP-Sprecher Ömer Çelik, der vergeblich versuchte, die Kritik an der Umweltpolitik der Regierung zu beschwichtigen. Außerdem behauptete Çelik, die Schürflizenz für die Firma Alamos Gold sei schon im Jahre 2001, also noch vor der ersten AKP-Regierung vergeben worden.

Die Umweltstiftung Tema hält dagegen, es seien knapp 200.000 Bäume gefällt worden und stützt sich auf Satellitenaufnahmen, die ein großflächiges, braunes und baumloses Territorium zeigen. Außerdem sollen bei der Goldgewinnung giftige Zyanide benutzt werden, die das Grundwasser der gesamten Region belasten könnten. Auch der deutsche Waldexperte und Förster Peter Wohlleben warnte in einem Interview vor den langfristigen Folgen der Waldrodung im Ida-Gebirge.

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© Pool Presidential Press Service/AP Photo

Erdogan schaltet sich ein

„Warum hat damals keiner protestiert, und wieso gerade jetzt?”, fragte der AKP-Abgeordnete Bülent Turan aus Çanakkale, der hinter den Protesten eine geplante Aktion von in- und ausländischen Strukturen vermutet. „Heute nützt das doch keinem Baum mehr.” Dabei stellte sich heraus, dass sowohl die CHP als auch die – damals oppositionelle – MHP seit 2012 dem Parlamentspräsidenten mehrere Vorschläge zur Bildung von Untersuchungskommissionen in Sachen Ida-Gebirge gemacht haben. Keiner dieser Vorschläge wurde von den AKP-Regierungen angenommen.

Nachdem die Protestaktion unerwartete Ausmaße angenommen hatte, schaltete sich schließlich auch Präsdent Erdoğan ein. Er ließ seine Fraktion wissen, er könne den ganzen Aufstand nicht verstehen. Außerdem wiederholte er die Argumentation seiner Partei und sprach von„Manipulationen”. Doch er versprach auch, das Ida-Gebirge bald zu besuchen. Noch am 9. Januar dieses Jahres hatte sich Erdoğan von seiner raren „grünen Seite” gezeigt und auf einem Symposium darüber geklagt, die Natur werde von einigen Firmen für ihre Gewinne gnadenlos zerstört.

Die Opposition stellt sich aktiv an die Seite der Naturschützer. Die Bürgermeister der benachbarten CHP- regierten Städte Çanakkale und Izmir nahmen an den Protestaktionen teil. Die CHP gab zudem bekannt, dass sie das Recht auf Natur als Teil ihrer Kommunalpolitik vertreten werde. Hierzu soll es demnächst in allen 81 Provinzen des Landes mindestens einen Verantwortlichen geben, der sich um diese Angelegenheit kümmert. Die CHP-Führung arbeitet momentan auch an einem Papier, dass das Recht der Bürger auf Natur deklariert.

Greta Thunberg solidarisch mit Aktivisten

Meral Akşener, Vorsitzende der rechts-konservativen Iyi- Partei, reiste eigens in die Region, um sich ein Bild vom Ausmaß der Rodungen zu machen. Dabei riet sie Erdoğan,es ihr gleichzutun. Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Ministerpräsident, dem Parteigründungspläne nachgesagt werden, meldete sich über die sozialen Medien zu Wort und erklärte, dass das Ida-Gebirge unbedingt unter Schutz gestellt werden müsse. Greta Thunberg, die junge Initiatorin der Umweltbewegung „Fridays for Future”, veröffentlichte ein Video und zeigte sich solidarisch mit den Aktivisten vom Ida-Gebirge.

Laut Angaben des Energieministeriums gibt es in der Türkei momentan knapp 10.000 Minen mit Betreiberlizenzen, knapp 3.000 davon bauen Gold, Silber und Kupfer ab. Dabei werden hierfür jährlich etwa 4.500 Tonnen giftige Zyanide verwendet. Die Ausschreibungsbedingungen sehen eigentlich vor, dass die Minenflächen nach dem Abbau des Bodenschatzes seitens der Betreiberfirma wieder aufgeforstet werden müssen. Doch da die Lizenzen zumeist für zehn bis achtzig Jahre vergeben werden, entstehen auf den Bauarealen inmitten von Wäldern große abgeholzte Flächen. Der Staat hat im Jahre 2017 durch die Vergabe von 1.218 Lizenzen knapp 320 Millionen türkische Lira (ca. 51 Millionen Euro) eingenommen.

 

Der Text ist ein Auszug aus dem Türkei Bulletin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

 

Dr. Hans-Georg Fleck ist Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.