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Türkei
Verabschiedet Erdoğan sein Land vom westlichen Sicherheitsbündnis?

Aret Demirci
Putin Erdogan

Recep Tayyip Erdogan und Vladimir Putin bei einer Pressekonferenz.

© picture alliance/Mikhail Metzel/TASS/dpa

Ankara ist seit mehr als 60 Jahren ein festes Mitglied des Nordatlantikpakts. Trotz Meinungsverschiedenheiten wurde die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO nie ernsthaft in Frage gestellt. Doch mit dem Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 riskiert Präsident Erdoğan die endgültige Loslösung seines Landes vom westlichen Sicherheits- und somit Wertesystem. Der krisengeschüttelten Türkei drohen Sanktionen, die Ankara endgültig in die offenen Arme Putins treiben könnten.

Nach mehreren Monaten des gespannten Wartens und der Ungewissheit bis zur allerletzten Minute, ob das russische Raketenabwehrsystem tatsächlich geliefert werden würde, kam die erste Ladung des wertvollen Militärguts am 12. Juli auf dem Luftwaffenstützpunkt Mürted nahe Ankara an. Trotz aller Animositäten in der Innenpolitik und trotz aller politisch-ideologischen Differenzen zwischen den verfeindeten Lagern wird der Kauf des russischen S-400-Systems über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg nahezu von allen in der Türkei begrüßt und als ein Beweis der türkischen Unabhängigkeit und Souveränität interpretiert. Gegensätzliche und kritische Stimmen werden unisono als Verräter abgestempelt.

Für sowohl regierungsnahe als auch -kritische Sender war die Landung des russischen Transportflugzeugs ein Highlight, schon fast vergleichbar mit der Mondlandung vor fünfzig Jahren. Mit Live-Zuschalten machten sie die gesamte Republik zu Zeugen dieses historischen Momentes.

Weitreichende Sanktionen vor der Tür

Doch auf die Jubelstimmung und Euphorie könnten bald Katerstimmung und Ernüchterung folgen. Für die Amerikaner ist der Kauf des S-400-Systems ein feindseliger Akt. Auch wenn Präsident Erdoğan nach seiner Rückkehr vom G-20-Gipfel im japanischen Osaka stolz verkündete, er habe nach dem Gespräch mit Trump das Gefühl bekommen, es werde keine Sanktionen gegen sein Land geben, werden die Stimmen in Washington, die nach einer Strafe für Ankara rufen, immer lauter. Gerüchten zufolge wird nun hinter verschlossenen Türen in Ankara nervös darüber spekuliert, ob es nicht weise wäre, parallel zum russischen S-400 auch das vergleichbare US-amerikanische Patriot-System zu beziehen.

Auf diese Weise, so das Gedankenspiel, könne Ankara Washington besänftigen und gegenüber Putin das Gesicht wahren.

In einem Bericht des Pentagons an den Kongress wird die Wahrscheinlichkeit abgewogen, den NATO-Partner im Rahmen des sogenannten CAATSA (Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act) mit bestimmten Sanktionen zu bestrafen. Die bilateralen Beziehungen, die zuvor schon durch diverse Konflikte, belastet waren, werden durch mögliche Sanktionsmaßnahmen Washingtons gegen Ankara eine andere Qualität annnehmen.

Wieso überhaupt das S-400-System? 

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Türkei ein solches Raketenabwehrsystem sehr dringend benötigt – ein Blick auf die Landkarte reicht zur Erklärung. Die Entscheidung als solches wird auch von kaum jemandem prinzipiell kritisiert. Spätestens seit dem ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran (1980-1988) ist Ankara auf der Suche nach Lösungen, um sich vor Raketenangriffen zu schützen. Lange Zeit hatte sich die Türkei gänzlich auf ihre gut ausgebaute Luftwaffe verlassen – doch nach dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 sollen mehr als 200 Kampfpiloten verhaftet worden sein, mit dem Vorwurf, am Putsch beteiligt gewesen zu sein.

Dabei hat Ankara den Kauf des russischen Systems stets mit drei Argumenten zu erklären versucht: 

  1. Die Bedingung des Technologietransfers in die Türkei, die eine wichtige Klausel der Ausschreibung darstellt, sei hier besser gegeben.
  2. Die Türkei wolle gegen die steigende Gefahr eines Raketenangriffs schnellstmöglich ihre eigenen Kapazitäten entwickeln - und das S-400-System sei nun mal das beste verfügbare Produkt auf dem Markt.
  3. Der Westen, allen voran die USA, hätten die Erwartungen der Türkei nicht erfüllt und die Türkei somit gewissermassen indirekt dazu gezwungen, das russische Angebot anzunehmen.

System gleicht trojanischem Pferd

Nachdem Ankara für eine kurze Zeit erwogen hatte – vielleicht war es auch nur ein Bluff – das Raketenabwehrsystem von den Chinesen zu beziehen, wurde die Ausschreibung abgebrochen. Danach wurde der Deal in den persönlichen Gesprächen zwischen Erdoğan und Putin abgewickelt. Welche türkischen Firmen werden am Technologietransfer partizipieren, welche Bauteile des S-400 werden in der Türkei produziert und in welchem Umfang wird es zu einem Technologietransfer kommen? – Alles Fragen, die weiterhin auf eine Antwort warten.

Die Türkei ist seit mehr als 60 Jahren fester Bestandteil des NATO-Systems, das russische System, so gut es auch sein mag, kann nicht ohne weiteres in das bestehende NATO-Radarsystem integriert werden. Folglich wird das türkische Militär von den Leistungen des S-400, Ziele korrekt zu identifizieren, zu verfolgen und schließlich zu eliminieren, nicht in vollem Maße profitieren können. Viele Experten vergleichen den Kauf des S-400-Systems mit dem Trojanischen Pferd, das die Türken mit ihren eigenen Händen in ihr Sicherheitssystem installieren.

Der Leidtragende ist wie immer das türkische Volk, das zuletzt bei der Wahlwiederholung für das Istanbuler Oberbürgermeisteramt gezeigt hatte, dass man die Repressionspolitik Erdoğans nicht länger hinnehmen will.

Aret Demirci

Die grundsätzliche Frage, gegen wen das S-400 Raketenabwehrsystem gerichtet werden soll, wird in Ankara jedoch weggeschwiegen. Diese Probleme rühren auch daher, dass die Türkei über keine richtig definierte, unter Teilnahme verschiedener Institutionen des Landes entwickelte und zum Teil kommunizierte Sicherheitsdoktrin verfügt. Dieses Nicht-Vorhandensein einer Gefahrendefinition spielt der AKP in die Hände; sie kann, wie in diesem Fall, je nach Lage und Konjunktur, die Gefahr für sich neu definieren und dementsprechend handeln.

CAATSA könnte für Ankara verheerende Folgen haben

Die allermeisten russischen Zulieferer und Sub-Unternehmer des S-400-Projekts sind Firmen, die sich auf den amerikanischen Sanktionslisten wiederfinden. Jede mögliche Zusammenarbeit mit diesen ist strengstens untersagt. Dem CAATSA zufolge wird die Türkei, sobald sie die Lieferung annimmt, ebenfalls mit Sanktionen belegt. Dies könnte für die türkische Wirtschaft, die über keinerlei nennenswerte Bodenschätze verfügt und gänzlich auf dem Handel beruht, weitreichende und verheerende Konsequenzen haben. Eine weitere verheerende Folge hätten die Sanktionen für die heimische Rüstungsindustrie, die gänzlich im NATO-System integriert ist.

Erdoğan und seine Familie, die selbst vielfach in der heimischen Rüstungsindustrie involviert sind, würden zu den größten Verlierern gehören. Ein Ersatz des NATO-gestützten Waffensystems durch russische Produkte ist kurz- und mittelfristig nicht realistisch.

Eine politische Entscheidung

Der Kauf des russischen S-400-Raketenabwehrsystems ist mehr als eine einfache Entscheidung marktwirtschaftlicher Natur. Es ist keine wirtschaftliche und schon gar nicht eine militärische Entscheidung, sondern eine rein politische. Die Türkei steht am Scheideweg: Wird sie weiterhin dem westlichen Sicherheits- und somit Wertesystems angehören, oder wird sie sich für Putins Russland entscheiden?

Ankara muss sich bewusst werden, dass die Türkei ein NATO-Mitglied ist und dass sich unter den gemeinsamen Erklärungen und Deklarationen ihre Unterschrift befindet. Bei den NATO-Gipfeln in Wales (2016), Warschau (2016) und Brüssel (2017 und 2018) wurde gemeinsam neben dem weltweiten Terrorismus Russland als die zweite große Gefahrenquelle identifiziert. Der Kauf von Rüstungsgütern, dann auch noch strategisch so wichtige wie ein Raketenabwehrsystem, in einem Land, das als gemeinsame Gefahrenquelle für das Bündnis angesehen wird, ist daher nur schwer vermittelbar.

Gewiss, die Türkei wird ihre Mitgliedschaft in der NATO so schnell nicht verlieren – es sei denn, Ankara beantragt selbst eine Kündigung. Doch eine weitreichende Isolation des Landes innerhalb des Sicherheitsbündnisses hätte ähnliche Folgen für das Land.

Integration in das russische System?

Die enge Zusammenarbeit auf der Achse Ankara-Moskau, die bereits seit der Restaurierung der Beziehungen auf zahlreichen Feldern, wie zum Beispiel Erdgas, Nuklearenergie, Tourismus, Handel und Ausbau von Pipelines besteht, wird mit dem Kauf des russischen Raketenabwehrsystems endlich auch auf dem militärischen Feld angekommen sein.

Eine Türkei, die unter dem Raketenschirm Putins Schutz sucht, wird immer mehr in die Einflusszone Moskaus gezogen werden und wird nicht darum herumkommen, auch in anderen Feldern, wie zum Beispiel Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, in das russische System integriert zu werden. Die Türkei, die sich seit mehreren Jahren schon kontinuierlich von der EU und den europäischen Werten distanziert, wird sich nicht schwer tun, sich in diesem anti-liberalen Umfeld zurecht zu finden. Doch ist Russland auch ein verlässlicher Partner im Sicherheitskontext? Diese Frage ist schnell beantwortet, wenn man sich erinnert, was in Georgien und in der Ukraine passiert ist.

Der Leidtragende ist wie immer das türkische Volk, das zuletzt bei der Wahlwiederholung für das Istanbuler Oberbürgermeisteramt gezeigt hatte, dass man die Repressionspolitik Erdoğans nicht länger hinnehmen will. Mit der Kursänderung ihres Landes werden es die Türken noch schwieriger haben, das Steuer herumzureißen.

 

Aret Demirci ist Projektkoordinator im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul.

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag und erschien erstmals bei focus.de am Freitag, 2. August 2019.