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Freiheitspreis
„Wir verneigen uns vor einem großen Freund der Freiheit"

Laudatio auf Bundespräsident a.D., Joachim Gauck
Ludwig Theodor Heuss bei seiner Laudatio in der Paulskirche.

Ludwig Theodor Heuss bei seiner Laudatio in der Paulskirche.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit/Stephan Flad

Sehr verehrter Herr Bundespräsident, lieber Joachim Gauck,

lassen Sie mich zu allererst ein Wort des Dankes sagen. Ein Wort des Dankes, dass Sie heute zu uns, an diesen Ort, in die Paulskirche gekommen sind. Zur Feier des Freiheitspreises. Ein Freiheitspreis für Joachim Gauck? - Mancher wird sich gefragt haben: aber hat er den denn nicht schon längst? Die Frage ist naheliegend. Wer, wenn nicht Sie? Und Sie waren ja auch schon häufig hier in der Paulskirche, etwa als Sie den Ludwig Börne Preis entgegennahmen, oder beim Friedenspreis und Sie haben schon oft hier von dieser Stelle gesprochen, ja, wenn ich richtig orientiert bin sogar auch schon gepredigt. Und zweifellos war da immer wieder auch von der Freiheit die Rede, denn die Freiheit, Sie haben es selbst so formuliert: das ist Ihr Lebensthema. Aber heute dürfen wir Ihnen an diesem besonderen Ort den Freiheitspreis verleihen. Das ist uns sehr wichtig. Denn Joachim Gauck, Freiheit und Paulskirche, da kommt zusammen, was zusammengehört! Und darüber sind wir heute froh und dankbar und verneigen uns vor einem großen Freund der Freiheit.

Aber lassen Sie mich mit einer ganz anderen Geschichte beginnen:

Der Sommer 1932 war eine unruhige Zeit. Instabilität lag in der Luft. Die zarten Gewächse von Demokratie und freiheitlichem Rechtsstaat in der Weimarer Republik waren spürbar gefährdet. - Es war das Jahr vor 1933. Die Reichstagswahlen vom Juli hatten erdrutschartige Gewinne für die äußerste Rechte gebracht, die Mitte und insbesondere die Liberalen waren zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. «Lieber Bub, Du weißt schon, dass der Ast sehr schwankt, auf dem wir sitzen», schrieb meine Großmutter Elly in diesen Tagen während einer Zugfahrt an meinen Vater. Mein 2 Großvater hatte zwar eines der vier verbliebenen Mandate der liberalen Staatspartei errungen, doch dies mit der Gewissheit, von jeder politischen Wirkung ausgeschlossen zu bleiben. Zudem hatte er Tage zuvor am Sarg seines unerwartet verstorbenen Bruders gestanden: in zweifacher Weise tief getroffen. Der Ast schwankte. Der Zug, aus dem meine Großmutter diese Zeilen schrieb fuhr nach Rostock. Das Paar traf sich, aus verschiedenen Richtungen kommend am dortigen Bahnhof und suchte für einige Tage Zuflucht an der Ostsee. Einige Tage Ruhe, zur Besinnung, um Kraft zu schöpfen, - Sie ahnen es, - im Fischland. Spazierend und zeichnend, etwa die Steilküste zwischen Ahrenshoop und Wustrow, den «schönsten Spazierweg der Welt» wie Sie, verehrter Joachim Gauck die heimatliche Umgebung einmal priesen. Der Bildhauer Gerhard Marcks, für den das benachbarte Niehagen nach 1933 zum Kraft- und Zufluchtsort im «dunklen Deutschland» werden sollte nannte es sein «stilles, urwüchsiges Refugium».

Man kann über Joachim Gauck nicht sprechen ohne Bezug zu nehmen zu dieser ursprünglichen Umgebung seiner ersten Lebensjahre, der Landschaft am Meer mit ihrem großen Himmel, dem Wind, der Kraft der Gezeiten, der Sehnsucht nach der Weite und nach den Kranichen, die die «Größe und Freiheit des Raumes» bemessen, wie Gerhard Marcks ihren Zug beschrieb. In Wustrow zwischen Ostsee und Bodden, haben Sie Ihre ersten prägenden Lebensjahre verbracht. Im Haus der Großmutter, direkt am Deich. Es muss, bei allen materiellen Nöten und Beschränkungen der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit eine freie Kindheit gewesen sein in diesem Ort mit seiner wortkargen, rauhbeinig-herzlichen Bevölkerung, wie beim «Fischer und syner Fru». Doch es wäre freilich zu platt, das Anklingen der Freiheitsmelodie in Ihrem Leben so einfach mit heiterer frühkindlicher Naturerfahrung erklären zu wollen, dazu ist letztlich leider auch die autochthone historische Freiheitstradition in Mecklenburg zu rar. Nein, wenn man den Ursprüngen der Freiheitssehnsucht bei Joachim Gauck nachspüren möchte, dann wird es ernster.

Heuss
© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit/Stephan Flad

Sie entspringt eher der Negation, dem Erlebnis eines plötzlichen Verlustes von Freiheit, durch unberechenbar eingreifende Gewalt staatlicher Willkür. Im Sommer 1951, den gleichen Wochen in denen der liberale Rostocker Studentenführer Arno Esch von sowjetischer Militärjustiz zum Tode verurteilt und exekutiert wurde, in diesem Sommer 1951 erlebten Sie, als Elfjähriger, dass der Vater, ein ehemaliger Kapitän zur See, der gerade auf der Rostocker Neptun-Werft wieder Arbeit gefunden hatte, plötzlich verschwand. «Abgeholt» nannte man das, verschleppt von Schergen des sowjetischen Militärgeheimdienstes, entmündigt, spurlos verschwunden. Es war dieses Erlebnis elementarer Ungerechtigkeit, das seinen Schatten auf Ihre und Ihrer drei Geschwister Jugendzeit legte, die «winterliche Eiseskälte, die im Sommer» aufzog. Erst zwei Jahre später, nach Stalins Tod im März 1953, erfuhr die Familie, dass der Vater noch am Leben war. Unschuldig, willkürlich, wegen des Erhalts des Briefes eines früheren Vorgesetzten, der nach Westberlin gegangen war und wegen einer regulär zugestellten nautischen Fachzeitschrift aus dem Westen, war er zu zweimal 25 Jahren Lagerhaft verurteilt und in den sibirischen Gulag verschleppt worden. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der glücklichen sozialistischen Gesellschaft, der «schön wie nie über Deutschland scheinenden Sonne» im Arbeiter- und Bauernstaat und dem Schicksal des eigenen unschuldigen Vaters, schärfte das Unrechtsempfinden und die Distanz zur offiziell deklamierten Doktrin. «Das Schicksal unseres Vaters», so schrieben Sie, «wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form von Fraternisierung mit dem System aus». Sie sind in einem «sehr gut ausgeprägten Antikommunismus aufgewachsen», schrieben Sie einst, «einem Antikommunismus der aus Leiden, Erkennen und Sensibilität, nicht aus Vorurteil und Ressentiment hervorgeht». Der manchmal subversive, manchmal lautstarke Protest des Schülers gegen ideologische Indoktrination und Gesinnungskonformität hielt auch an, nachdem der Vater im Herbst 1955 in die Heimat zurückkehren konnte.

«Antikommunismus», was für ein Begriff, der später manchem wohlmeinenden westlichen Linksintellektuellen schon als Vokabular des Kalten Krieges im Halse stecken blieb. Doch hatte nicht Willy Brandt 1949 erklärt, man könne heute «nicht Demokrat sein, ohne Antikommunist zu sein», im Gegensatz zum bekannten Dictum von Thomas Mann, der aus dem amerikanischen Exil den Antikommunismus «als Grundtorheit der Epoche» bezeichnet? Die leidvolle Auseinandersetzung mit den Spielformen der Unfreiheit im 20 Jahrhundert, die bei den Begriffen beginnt, ist voll von Widersprüchen. Doch erwuchs die konsequente Ablehnung gegen das Totalitäre aus dem unmittelbaren Erleben der Realität, während die theoretische Auseinandersetzung zu leicht Raum zu allerhand intellektueller Abwägung bot. Auch daran sei erinnert, wenn heute gelegentlich reaktionäre Phantasien von links oder rechts mit ihren einfachen Antworten neue Wirkungsmacht erstreben.

Jedenfalls, so beschreiben Sie es, lieber Herr Gauck, entwickelten Sie sich unter der Lektüre Ernst Blochs und dem Einfluss linksprotestantischer Freunde aus Norddeutschland und Bayern später zum idealistischen Anti-Antikommunisten, also zu jemandem, der an das Gute, das Bessere glaubt, dem aber Ideologien in jeder Form suspekt sind, - oder in die Sphäre der politischen Glaubensbekenntnisse transponiert, zu so etwas wie einem «zweifelnden Agnostiker». Das ist ein guter Ausgangspunkt zur Reflexion über die Freiheit, denn die Liebe zur Freiheit nährt sich aus der Betrachtung der Realität, nicht aus einer Ideologie. Und darum kann der Liebhaber der Freiheit so auch rasch zu einem «linken, liberalen Konservativen» werden, der so recht in keine Schublade und nicht in das Weltbild promovierter Physikerinnen passt. Und ich möchte anfügen: und das ist gut so.

Wenn ich etwas salopp vom «ideologischen Agnostiker» sprach, so bezieht sich das natürlich nicht auf die Sphäre des persönlichen Menschtums. «Aus festem, sehr protestantischem Holze» bezeichnete Sie Hildegard Hamm-Brücher. Und beschreibt den Pastor Gauck, der ihr in den 80-er Jahren anlässlich des Kirchentages in Rostock die «trostlosen Wohngegenden seiner Pfarrei zeigte, wo er in Waschküchen und Hinterzimmern Jugend- und Konfirmandenarbeit leistete, ein Seelsorger im wahrsten Wortsinn – immer aber auch ein sehr tatkräftiger politischer Mensch.2» Dabei hatten Sie ursprünglich Germanistik studieren und Journalist werden wollen. Doch dieser Weg war Ihnen im politischen System Walter Ulbrichts verwehrt. Den Ausweg in die Theologie wählten Sie nicht aus einem ursprünglichen Gefühl der Frömmigkeit, oder einem Erweckungserlebnis, das Elternhaus war wohl nüchtern protestantisch, sondern, Sie wählten den Weg um Antworten auf die Fragen des Daseins zu finden, die jenseits der marxistisch-leninistischen Doktrin lagen. Theologie und Kirche boten die Möglichkeit eine innere Sphäre der Freiheit und des sich Entziehens und gelegentlich auch des Widerstehens zu erhalten. Übrigens in der ehemaligen DDR kein ungewöhnlicher Weg, der auch dazu beitrug, dass ein späterer Spötter bemerken konnte: 1789 seien die Bürger, 1918 die Arbeiter und Soldaten und 1989 die Pastoren die tragende Schicht der Revolution gewesen.

Sie haben sie gefühlt, als sie fehlte, gelebt, als es gefährlich war, verteidigt, als sie umstritten war und Sie haben sie im Bewusstsein gehalten, als sie schon selbstverständlich schien: #Freiheit!"

Heuss
Ludwig T. Heuss

Das Leben als erwachsener, selbstverantwortlicher Mensch mit, in, oder unter einem System der Unfreiheit. Das ist eine nicht nur, aber doch auch sehr deutsche Erfahrung, der die Frauen und Männer die jenseits des Eisernen Vorhangs lebten in doppeltem Maß, während zweier Generationen ausgesetzt waren. Heute, knapp dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, verblasst bei den Jüngeren die unmittelbare Vorstellung dessen, was Unfreiheit mit Menschen anrichtet. Das mag tröstlich sein. Es birgt aber auch, wie wir mit zunehmender Sorge sehen, die Gefahren einer neuen Verführbarkeit.

Doch bleiben wir ehrlich. Bei uns hier im Westen begannen auch Gewöhnung und Vergessen schon früher. Sie wurden, wie Sie es formuliert haben, mit dem Mauerbau 1961 zu «Insassen» ihres Landes; wir schauten hinüber, betrachteten dieses Werk widernatürlicher Teilung mit Argwohn, empfanden die bewaffnete, konkurrierende Ideologie durchaus auch als Bedrohung. Doch im Alltag gewöhnte man sich. Vielleicht fuhr man gelegentlich nach Westberlin, stieg auf die Aussichtsplattform am Potsdamer Platz, ließ sich von Reiseführern die Grenzbefestigungen, Hundezwinger, Selbstschussanlagen erklären, - und wandte sich mit Schaudern ab. Später fuhr man vielleicht gelegentlich nach Ostberlin: in Bussen hermetisch abgeschlossen, endlos wartend am Checkpoint wo mit Spiegeln die Fahrzeuge von unten kontrolliert und die Radkappen beklopft wurden und blickte verstört auf Straßenzüge in denen sich trostloses Grau auf Preußens Gloria gelegt hatte. Wir im Westen machten uns unser Bild. Empfanden Fremdheit, Mitleid und insgeheim Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal auf der «richtigen» Seite leben zu dürfen. Aber wir gewöhnten uns an den Zustand, akzeptierten ihn doch letztlich. Und nächstes Jahr fuhr man eben in Urlaub ans Mittelmeer. Wir im Westen wollten unseren Weg gehen und konnten es auch. Ich konnte in den 80er Jahren Medizin studieren, Ihr Sohn Christian konnte es nicht. Er konnte es nicht, weil sein Vater Pastor geworden war, Theologie studiert hatte, um in einem Umfeld einengender und kontrollierender Staatsgewalt einen Freiraum zu besetzen und zu erhalten. Sie wählten den beschwerlichen, den aufrechten Gang. Wir hatten freie Fahrt. Rückblickend auch etwas beschämend. Aber «Man gewöhnt sich so schnell an das Schöne», das war nicht nur eine fürchterliche Schnulze der 60-er Jahre, es war und ist Zeitgeist. Es ist menschlich. Und immer wieder auch Anlass über Verführungen und Verführbarkeit nachzudenken.

Unterwerfung oder Widerstand, Flüchten oder Standhalten sind Grundfragen der Gesellschaft im 20 Jahrhundert, die unser aller Familiengeschichten durchziehen. In stillen Momenten stellen wir uns die Frage: Wie hätte ich, wie hättest Du gehandelt? In einem Parlament, in dem sich eine Übermacht bewaffneter SA- und SS- Leute zu einer wildentschlossenen Drohkulisse aufgebaut haben, oder nach einer Denunziation durch den Blockwart mit anschließender Hausdurchsuchung der Gestapo oder nach einer Vorladung bei der Stasi, die akribische Protokolle von Gesprächen im Freundeskreis vorlegt? Flüchten oder standhalten? Sie, verehrter Herr Gauck, wählten das Standhalten. Nach einer ersten Pfarrstelle im ländlichen Lüssow folgte ab 1971 die Gemeindearbeit in Rostock-Evershagen dem schon geschilderten Platten-Neubaugebiet zwischen Rostock und Warnemünde. Es war wohl ein bewusster Schritt in die innere Mission, als Pastor in einer Gemeinde ohne gewachsene Strukturen und ohne eigene Kirche, auf argwöhnischem bis feindseligem Territorium. Seit 1974, so erfährt man aus der Biographie wurde Pastor Gauck von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit überwacht.

Sie haben immer wieder daran erinnert: es gibt Lebensumstände und Verhaltensweisen die für Diktaturen typisch sind. Nicht jeder hat das Zeug zum Helden, oder Märtyrer in einer politischen Ordnung der Recht und Gerechtigkeit fremd sind. Mancher richtet sich in Nischen ein, beschränkt seine Wahrnehmung der äußeren Dinge bewusst auf den engen Kreis – und dann war später in der Erinnerung auch alles gar nicht so schlimm. Wann ist eine auch weitergehende Anpassung menschlich verständlich und von politischer Rationalität? Jeder einzelne will in seinem Leben ja auch weiterkommen, und jeder Staat braucht ja nicht nur Führungs- sondern auch Funktionseliten: Oberärzte, Abteilungsleiter, Revierförster, - auch Diktaturen, - und ab wann wird Anpassung zur Unterwerfung? Ist der erzwungene Beitritt zur Einheitspartei oder einer fachlichen Unterorganisation ein entschuldbarer, opportunistischer, rein administrativer Akt? Wie häufig haben wir gehört, na ja, das musste man damals eben, - aber er war kein Nazi, oder kein Kommunist! und ab wann ist es doch ein bewusster Pakt? Auch wer nicht alles wissen will, kann später immer, auch mit gutem Gewissen behaupten nichts gewusst zu haben.

Sie verehrter Joachim Gauck haben, aus der Erfahrung und Beobachtung sehr überzeugend immer wieder betont, auch in Zeiten der Diktatur gilt für jeden einzelnen 7 die Erkenntnis: ich habe eine Wahl. Natürlich ist die Möglichkeit viel eingeschränkter, als in einer freien Demokratie. Aber es bleibt doch: die Wahl mitzutun oder sich, auch ohne ein Held zu sein, aber doch im Rahmen seiner Möglichkeiten zu entziehen. Die Wahl, sich dem Druck zu beugen, oder fest zu bleiben. Die Wahl wissen zu wollen, oder sich zu verschließen. Wählen zu können, der freie Wille, das ist die Essenz von Freiheit. Es ist die innere Freiheit des Einzelnen, die seine menschliche Würde bestimmt. Ob seine Entscheidung letztlich richtig oder falsch war bleibt Maßgabe des inneren Wertesystems. Sie haben während Jahren in der Gemeindearbeit genau hierzu Grundlagen gelegt. In einer Zeit in der die äußere Freiheit fehlte haben Sie Menschen Mut gemacht, sie bestärkt in der Gewissheit, dass es eine Sphäre persönlicher Freiheit gibt, in der die innere Freiheit der Entscheidung jedem Einzelnen erhalten bleibt. Und Sie haben Mut gemacht «Abschied zu nehmen vom Schattendasein in den Tarnanzügen der Anpassung».

Zu flüchten, in den Westen zu gehen kam für Sie nicht in Frage, auch wenn Sie solche Entscheidungen bei Gemeindemitgliedern, ja auch bei dreien Ihrer vier Kinder als Willensentscheidung und mit Schmerzen akzeptierten. Aber Sie wollten Ihr Land besser machen, wenn alle fortliefen war das ja keine Lösung. Es ging um das zähe Abringen, Abtrotzen und Absichern von Freiräumen innerhalb der Gegebenheiten des Staates, der ein Zuhause war. Die regionalen Kirchentage von 1982 und 1988 waren Anlass das west-östliche Tauwetter zu nutzen, und auf «Brücken» und Hoffnung zu bauen: «nur wer etwas hofft wird in Kirche und Gesellschaft die notwendigen Veränderungen bewirken» war die Ansage in Ihrer Predigt.

Die Geschehnisse im Jahr 1989 kamen dann aber für Sie genau so überraschend wie für alle anderen. Der bleierne Sommer hatte zwar zaghafte Risse im eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich sichtbar gemacht, insgesamt blieb das greise System jedoch weiterhin unbeeindruckt, ein bewegungsloser monolithischer Block. Aber dann, nach Genschers unvergessenem Auftritt am 30. September auf dem Balkon der Prager Botschaft, vor allem nach den anschwellenden Demonstrationen seit dem 7. Oktober in Plauen, dann Leipzig, später auch in Berlin und Rostock bis hin zum 9. November dem Fall der Berliner Mauer wurde es plötzlich «Frühling im Herbst». Im Oktober 1989 hatte sich auch in Rostock das «Neue Forum» formiert, dessen führender Vertreter Sie wurden und Sie brachten das Wort Vaclav Havels in Erinnerung, dass die Macht der 8 Mächtigen der Ohnmacht der Ohnmächtigen entspringt. Mit einem Mal fanden die Ohnmächtigen ihre Sprache wieder. Die Entmündigten, welch merkwürdiges Wort der deutschen Sprache, «ermündigten» sich mit dem stolzen Wort «Wir sind das Volk». Sie haben einmal so bezeichnend formuliert: «Wenn die Politik die Dimension des Heiligen hätte, so wäre dieser Satz heilig: «Wir sind das Volk». Und ich möchte anfügen: wir sind heute aufgerufen die Heiligkeit dieses Satzes zu bewahren und vor Missbrauch zu schützen.

Doch noch vor dem «wir», vielleicht manchmal nur Sekunden, kam das «ich». Der Weg in die Freiheit führte über die Selbstermächtigung des Individuums, seiner Wahrnehmung und Bewusstwerdung. Das Erwachen von Bürgersinn und Zivilcourage, die dann im «wir» mündete. Das ist das große Geschenk und Vermächtnis, das die Bürger der ehemaligen DDR der deutschen Freiheitsgeschichte gemacht haben. Sie, Joachim Gauck, haben diesen Vorgang von Anfang an als solchen verstanden, mitgestaltet und verteidigt. Zu den ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen am 18. März 1990 traten Sie als Kandidat von Bündnis 90 an. «Freiheit» stand in roten Lettern auf Ihrem Plakat und «wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!». Das «ich» hatte den Schritt in die Politik getan.

Im Jahr 1990, als Sie als Abgeordneter des Neuen Forums in der letzten Volkskammer der DDR saßen, als aus dem Ruf «Wir sind das Volk» längst «Wir sind ein Volk» geworden war und die Einigungsverhandlungen liefen, da haben Sie mit dem Selbstbewusstsein des freien Bürgers auch gegenüber Vertretern der westdeutschen Bundesregierung das eingefordert und durchgesetzt, was für den weiteren Weg in die gemeinsame Demokratie so außerordentlich wichtig war: nämlich dass die über 180 Kilometer Aktenmaterial der Stasi, die Zeugnisse jahrelanger Unterdrückung, Bespitzelung und Misstrauens, gesetzlich geregelt in den Händen und im Zugriff derer blieben, die sich ihre Inbesitznahme erkämpft hatten. Ich erinnere mich lebhaft an den März 1991, den Zeitpunkt unserer ersten Begegnung, als die unvergessene Hildegard Hamm-Brücher, anlässlich einer ähnlichen Feierstunde, Sie als denjenigen Mann vorstellte, «der sich die schwerste Last aufgebürdet hat, die die SED-Herrschaft hinterlassen hat». Aber vor uns stand kein Beladener, kein Gebückter. Vor uns stand eine vitale, stattliche, männliche Gestalt. Was Sie ausstrahlten war der «aufrechte Gang in die Demokratie», der, damals wie heute, Bewunderung und Respekt abnötigte – und der auch so manchen im Westen mit schlechtem Gewissen endlich aufwachen ließ. Wie hielten denn wir es mit der Selbstverständlichkeit unserer Freiheit? Waren wir uns ihrer bewusst?

Dass der Weg in Demokratie und Freiheit für diesmal keine Ausflüchte mit Persilscheinen bereithalten würde, sondern dass die Betrachtung der Realität auch schmerzhafte Wahrheiten ins Bewusstsein rücken musste haben wir alle erfahren. Auch die kleine Stiftung, die damals 1991 zu Ihrer und anderer Bürgerrechtler Ehrung noch Manfred Stolpe als Festredner geladen hatte. So konnte man irren, enttäuscht werden. Aber das war der Preis dafür, dass diesmal nicht großzügig weggewischt und verschwiegen, dass diesmal die Fehler der mangelnden Aufarbeitung der Verstrickung in die Mechanismen der Diktatur, nicht nochmals wiederholt wurden. Es war der Preis der Freiheit. Schmerzhaft gewiss, aber ohne dass das Land in Chaos versunken oder unregierbar geworden wäre. Was für eine Leistung, was für ein Verdienst auch der Behörde die Sie geprägt haben, nicht nur weil sie (irgendwie bis heute) Ihren Namen trug.

Nein Schlussstrichmentalität war Ihre Sache nicht. Auch nach der Zeit als «Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik», blieben Sie, befreit von der Aufgabe des Amtes, aktiver Publizist und Mahner im Kampf gegen das Vergessen. Schon ein gutes Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung begann vielerorts die Nostalgie, die beschönigte Erinnerung an die Zeit, in der man vielleicht nicht frei, aber dafür solidarisch, geborgen und verbunden war. Als Vorsitzender des Vereins «Gegen Vergessen, für Demokratie» machten Sie nicht nur die Erinnerung an die Diktaturen, den Kampf gegen das Vergessen, sondern vor allem die Freiheit selbst zum Thema Ihrer vielfältigen publizistischen Tätigkeit. Die Sehnsucht und der Kampf um die Freiheit durfte nicht aufhören, nachdem sie erlangt war. Diese öffentliche Tätigkeit war dabei nur konsequent. Es war nicht der ehemalige Pastor, nicht der ehemalige Bürgerrechtler, nicht der ehemalige Abgeordnete, nicht der ehemalige Behördenleiter, - gut vielleicht war es das alles ein bisschen auch -, aber es war in erster Linie der freie Bürger Gauck, der das Ringen, das Kämpfen um die «Freiheit nach der Freiheit» als seine nächste natürlich gewachsene Aufgabe verstand. Es war die selbstverständliche Übernahme der Verantwortung als citoyen in bester republikanischer Tradition. «Verantwortung» so 10 haben Sie formuliert, «ist die Freiheit des Erwachsenen», sich ihr zu stellen ist Bürgerpflicht. «Joachim Gauck, Bürger» titelte eine überregionale Tageszeitung, die gerne kluge Köpfe hinter ihrer Printausgabe versteckt, eine Werbeanzeige. Gibt es für einen freien Menschen einen schöneren Titel?

Die Deutschen tun sich bekanntlich schwer mit der Freiheit. Sie liegt ihnen nicht, es ist ein Minderheitenthema, denn es fehlt die «Geneigtheit zur Freiheit». In einem Gesprächsband in dem Helmut Schmidt und Fritz Stern sich über «ihr Jahrhundert» austauschen gibt es eine verstörende Stelle: man spricht über die deutsche Staatlichkeit, über Fichte, Humboldt, Hegel, Stein, auch Clausewitz. Als Fritz Stern auf John Stuart Mills «On Liberty» als einen der wichtigsten Texte des europäischen Liberalismus verweist repliziert der Altkanzler: «Interessant. Worum geht es da?». Konnte es sein, dass Schmidt noch nichts von Mill gehört hatte? Ich will ihm nichts unterstellen. Aber das Gesprächsprotokoll lässt diesen Schluss zu und er passt so deutlich zu dem Empfinden, dass auch im demokratischen Deutschland die gute Ordnung der Dinge immer wichtiger ist als die Chancen, die Möglichkeiten die in der Sphäre der Freiheit liegen. Es ist nicht immer Unordnung, wenn Freiheit ins Spiel kommt, aber eine gewisse Unsicherheit – und mit der muss auch unsere Gesellschaft umzugehen lernen.

Sie verehrter Herr Bundespräsident kannten nicht nur Mill, Sie haben ihn zitiert. Vor allem ist es Ihnen zu verdanken, dass der Wert der Freiheit endlich wieder ins öffentliche Bewusstsein rückte. «Unser Land» so sprachen Sie am 23. März 2012 vor dem Bundestag, «unser Land muss ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung für Gerechtigkeit – und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.» Und an anderer Stelle legten Sie dar, dass, und warum in unseren freiheitlichen Gesellschaften im Spannungsdreieck von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, ganz natürlicher Weise ein Schwerpunkt auf der Freiheit liegen muss. Was für ein Glück für dieses Land an höchster Stelle in Ihnen einen solchen Herold der Freiheit gehabt zu haben.

Meine Damen und Herren, ich habe mit einer kurzen Geschichte aus dem unruhigen Jahr 1932 begonnen. Nein, 2018 ist nicht 1932. Aber es ist unruhig in unserem politischen Gefüge. Zurecht waren Sie verehrter Herr Bundespräsident, während der Dauer Ihrer Amtszeit stolz, dass ins deutsche Parlament noch keine populistische, fremdenfeindliche Partei eingezogen war. Mittlerweile ist das anders. Mittlerweile ist diese Partei der lauten Parolen und einfachen Antworten auch in Umfragen immer stärker geworden. Und nicht nur das: zusammen mit der Restverwertungsmasse auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es Bundesländer, in denen die beiden Blöcke an den Rändern zusammen fast oder sogar mehr als 40% Zustimmung hinter sich vereinen. Der demokratische Grundkonsens unserer Gesellschaft wird in die Zange genommen. Es wird enger für die Freiheit. Sie haben in Ihren treffsicheren Beobachtungen nicht nur den Wandel von der Untertanenmentalität zum freien Bürger beschrieben, nein, Sie haben auch von der Angst gesprochen, die Freiheit auslösen kann, wenn sie einmal nicht nur Sehnsucht, sondern Realität ist. Die Angst vor der Freiheit nach der Freiheit, weil sie die Notwendigkeit mit sich bringt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und die Gefahr birgt, dabei auch zu scheitern. Die Angst vor der Freiheit, weil viele befürchten, dass diese Freiheit anderen mehr nützen könnte als ihnen selbst. Wie sagte unser ehemaliger Stiftungsvorsitzender Wolfgang Gerhardt oft in seinen Reden: «Die Freiheit ist noch nicht gewonnen» – endgültig gewonnen, meinte er. Die Freiheit, wenn man sie einmal hat, ist flüchtig und immerzu gefährdet. Sie bedarf der Zuwendung und Gestaltung und muss von jeder Generation, auch denen, die in ihr geboren wurden, neu erkämpft und verteidigt werden.

Nein 2018 ist nicht 1932, und 2019 oder 2020 werden niemals... nein, ich spreche es gar nicht aus! Der von den Nazis verfemte Bildhauer Gerhard Marcks, der im Fischland Zuflucht gefunden hatte, hat eine wunderbare Skulptur geschaffen. Da steht eine feste männliche Gestalt, das Gewand vom Ostseewind gebauscht, beide Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt: «Der Rufer». Überlebensgroß steht die Figur auf der Straße des 17. Juni, noch vor dem sowjetischen Ehrenmal und ruft in Richtung Brandenburger Tor. Im Mai 1989 hatten ihn engagierte Westberliner Bürger dort auf einen Sockel gestellt und über die Mauer rufen lassen. Welchen Ruf ihm der Künstler ursprünglich in den Mund gelegt hat, ist nicht übermittelt. Ich weiß, heute ziert seinen Sockel ein Friedenszitat von Petrarca. Das ist auch gut. Aber an diesem geschichtlichen Ort, mit dieser festen Entschlossenheit und dieser Kraft des Herzens ist sein wirklicher Ruf ein anderer.

Es ist an uns diesen, seinen, Ihren Ruf zu verstehen und tausendfach zu mehren:

Sie haben sie gefühlt, als sie fehlte,
Sie haben sie gelebt als es gefährlich war,
Sie haben sie verteidigt als sie umstritten war und
Sie haben sie im öffentlichen Bewusstsein gehalten, als sie für viele - zu viele – schon selbstverständlich schien:

«Freiheit»!

Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss ist Stellvertretender Kuratoriumsvorsitzender der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit.