Energiepolitik
Schaffen wir das?
Ein Durchbruch! So titelten die einschlägigen Medien im Dezember 2022, als das Lawrence Livermore National Laboratory in San Francisco vermeldete, dass es erstmals gelungen sei, Wasserstoffatome zu einem Heliumkern zu verschmelzen, und zwar so, dass mehr Energie freigesetzt wurde, als zuvor im Brennstoff deponiert war. Das ist ein gewaltiger Fortschritt in der Technologie der Kernfusion, auf den jahrzehntelang hingearbeitet worden war. Damit ist die Kernfusion zurück im Spielfeld der potenziellen Energien der Zukunft, wohlbemerkt: der sauberen Energien, denn sie emittiert keinerlei Treibhausgase und hinterlässt – anders als die Kernspaltung – auch keinen nuklearen Müll.
Natürlich ist es noch ein weiter, steiniger Weg bis zu irgendeiner technisch und wirtschaftlich breiten Nutzung dieser Technologie. Es kann noch Jahrzehnte dauern, bis dies realistisch möglich wird. Aber die Tür ist aufgestoßen für einen Schwarm von Start-up-Unternehmen, die diese fundamentale Innovation in eine ökonomisch verwertbare Standardtechnologie umsetzen können – genauso, wie dies bei den großen Entdeckungen und Erfindungen in der Motortechnik, der Elektrizität und der Mikroelektronik geschah.
Welche Folgen hat das politische Aus für die Atomkraft?
Und plötzlich steht hinter mancher irreversiblen Vorentscheidung zum massiven Ausbau regenerativer Energien doch ein zusätzliches Fragezeichen: Wäre es nicht doch besser, auch für die friedliche Nutzung der Atomkraft offen zu bleiben, statt mit starrem Blick auf die Vergangenheit deren Zukunftsfähigkeit dogmatisch zu bestreiten? Liegen nicht doch jene vielen Länder der Welt richtig, die der Atomkraft zumindest einen Nischenplatz im Spektrum der Energiequellen reservieren und weiter intensiv in dem Bereich forschen? Begeht Deutschland da nicht einen großen Fehler mit technologisch und wirtschaftlich fatalen Folgen, wenn es im April nächsten Jahres alle Kernkraftwerke „planmäßig“ abschaltet, statt sie zumindest einige Jahre weiterzubetreiben und die Entwicklungen abzuwarten?
Heute wirken sich die Verschleppungen bei der Energie-Infrastruktur, zum Beispiel bei LNG-Terminals, fatal aus.
Tatsache ist: In Deutschland dominiert die grüne Grundmelodie der Energiepolitik seit gut zwei Jahrzehnten, und sie lässt Technologieoffenheit mit Blick auf die Kernkraft aus dogmatischen Gründen nicht zu. Das ist grotesk und gefährlich: Der Gründungsmythos einer einzigen Partei beherrscht die Zukunft der Energiepolitik für mehr als 80 Millionen Deutsche und durchkreuzt viele europäische Pläne, die dem entgegenstehen könnten.
Dabei ist die Atomkraft natürlich nur ein – allerdings wichtiges – Beispiel für die katastrophale Bilanz energiepolitischer Grundentscheide, die in der Ära Merkel getroffen wurden – alle übrigens von der langjährigen CDU-Kanzlerin zumeist aus parteitaktischen Gründen befördert oder gar forciert. Ganz vorne steht natürlich die Abhängigkeit von russischem Gas, die nun aus zwingenden geopolitischen Gründen beendet wird – und dies wohl für sehr lange Zeit, wenn es nicht in Russland zu einem Sturz Putins und einer Demokratisierung kommt. Merkels Deutschland wurde immer wieder von Politikern in Mittel- und Osteuropa vor diesem Schreckensszenario gewarnt. Aber niemand wollte das hören.
Planungen dauern viel zu lange
Ebenfalls fatal wirkt sich eine Vielzahl von Verschleppungen beim Ausbau der Energie-Infrastruktur aus: Keine LNG-Terminals für Flüssiggas wurden gebaut, zu wenige Windräder entstanden, auch beim Bau von Solaranlagen klemmte es, der Ausbau weiträumiger Netze zum Energietransport kam nicht voran. Schließlich sorgte die mangelnde Digitalisierung für Rückstände bei der klugen Steuerung des Energieverbrauchs und der effizienten Nutzung von Sparpotenzialen. Und über allem schwebte ein gewaltiges Grundproblem: Die Verfahren zur Genehmigung von Großprojekten dauern in Deutschland viel zu lange, völlig egal in welchem Segment der Infrastruktur. Dies zeigt ein Seitenblick in europäische Nachbarnationen – zum Beispiel auf den Bau von Eisenbahnstrecken in der Schweiz und Frankreich oder den Fehmarn- Sund-Tunnel in Dänemark als Ostseeanrainerstaat.
Es gibt dabei in Deutschland eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der geradezu großspurigen Verkündigung von Zielvorgaben („Bis 20xx wird …“) und dem erbärmlichen Zustand der Realität. Man beschließt den Weg zur Welt des Elektroautos bis in die 2030er-Jahre (gerade mal eine Dekade weg!), aber man bremst beim Bau von Straßen und Brücken, obwohl offensichtlich auch Elektroautos asphaltierte Wege und Pisten brauchen. Man will eine massive Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Bahn, lebt aber derzeit noch mit einem komplett überlasteten Schienennetz, dessen Ausbau und Modernisierung nicht vorankommen – die Stellwerke sind zum Teil rund hundert Jahre alt. Es ist eine Politik der Illusionen, geprägt vom deutschen Idealismus und nicht von deutscher Ingenieurkunst.
Dabei kann Deutschland, wenn es nur politisch will, verdammt schnell handeln. Der Aufbau Ost im Zuge der deutschen Einheit wird zu Recht außerhalb unseres Landes – viel mehr als zu Hause – als ein gewaltiger Kraftakt der extrem straffen Organisation industrieller Kraft gefeiert. Alles ging damals viel schneller als normal, übrigens auch schneller als bei den östlichen postsozialistischen Nachbarn. Und auch in den letzten Monaten gibt es gute Ansätze: Dass der erste LNG-Terminal an der Nordsee pünktlich fertig wurde, kam für viele überraschend. Wir hatten wohl selbst verlernt, an die im Ausland historisch viel gerühmte deutsche Effizienz zu glauben.
Verringerte Abhängigkeiten
Noch bemerkenswerter ist der deutsche Parforceritt bei der Abhängigkeit von russischem Rohstoffen. Der Anteil des importierten Gases, das aus Russland kommt, lag vor Beginn des Ukraine-Krieges bei etwa 55 Prozent. Gerade mal zehn Monate später liegt er bei null. Analoges gilt für die Steinkohle mit einem Rückgang von 50 Prozent auf ebenfalls null; und Ähnliches beim Öl mit einer Senkung von etwa 35 auf knapp über 10 Prozent. Wohlgemerkt: dies alles ohne einen Zusammenbruch der Leistungskraft unserer deutschen Wirtschaft und ohne Kollaps der privaten Versorgung mit Energie. Symbolisch steht dafür der (richtige) Satz, der seit Wochen in den Medien wiederholt wird: Die Gasspeicher sind voll!
Es gilt, den Eifer bei der Krisenbekämpfung in Entschlossenheit für die Modernisierung umzuwandeln.
Einzuräumen ist natürlich, dass der Staat kräftig mitgeholfen hat, die Situation kurzfristig zu stabilisieren – durch gewaltige Hilfsprogramme und weit gespannte (und teure!) Rettungsnetze. Allerdings gilt es abzuwarten, wie stark diese überhaupt in Anspruch genommen werden. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass gerade in der mittelständischen Industrie zunächst die eigenen Möglichkeiten der Anpassung genutzt werden, bevor man auf Staatsgeld zurückgreift, dessen Nutzung ja auch die eigene marktwirtschaftliche Reputation schädigen kann.
Die Lektion von alledem lautet: Es geht, wenn man nur will und entschlossen handelt. Was ist zu tun? Es gilt, den eiligen Eifer bei der kurzfristigen Krisenbekämpfung in eine nachhaltige Entschlossenheit für die Modernisierung unserer Infrastruktur umzuwandeln. Ein neuer Mindset ist erforderlich – wie in den Neunzigerjahren, als der damalige Bundespräsident Roman Herzog davon sprach, dass ein „Ruck“ durch unser Land gehen müsse, und damit die damals nötige Modernisierung der Arbeitsmarktverfassung einschließlich Hartz IV mental anstieß. Analoges brauchen wir heute.
Beschleunigte Genehmigungen für schnellere Projekte
Das gilt für alle Bereiche der Infrastruktur. Ein Schlüssel dazu ist sicherlich überall die Beschleunigung des Verwaltungshandelns: Projekte müssen schneller umgesetzt werden. Dazu hat sich die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag bekannt – dieser avisiert eine Halbierung der Länge von Genehmigungsverfahren durch entsprechende Anpassung des gesetzlichen Rahmens. Dies gilt auch, aber natürlich nicht nur, für Projekte des Umwelt- und Klimaschutzes, wie Digital- und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) in seiner Auseinandersetzung mit der Umweltministerin Steffi Lemke (Die Grünen) zu Recht immer wieder deutlich macht. Die Politik muss begreifen, dass die dringende Modernisierung der Infrastruktur eine ganzheitliche Aufgabe ist. Aus ihr lassen sich nicht „gute“ und „schlechte“ Bereiche herausfiltern, denn tatsächlich hängt hier alles mit allem zusammen. Der Ruck, der durch Deutschland gehen muss, betrifft den Zustand des Landes insgesamt, nicht ideologisch ausgewählte Sparten.
Nur mit einer breit angelegten Offensive kann es gelingen, Deutschland wieder zukunftsfähig zu machen. Es geht dabei um nicht weniger als um die Transformation eines hervorragenden, aber erkennbar gealterten Industrielandes von der Welt des 20. in die Welt des 21. Jahrhunderts – und dies in einer geopolitisch abrupt veränderten Konstellation. Eine gewaltige Herausforderung. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob wir das schaffen oder scheitern.