Erdüberlastungstag
Das Elend der Enthaltsamkeit
„Eine Welt ist nicht genug“ – so titelte DIE WELT (Printversion) zum „Erdüberlastungstag“, der heute begangen wurde – so früh wie noch nie. Dieser Tag markiert den Zeitpunkt, an dem die Erde bereits die in diesem Jahr nachwachsenden natürlichen Ressourcen verbraucht hat. Ab diesem Tag betreibt die globale Gesellschaft „Raubbau“ in dem Sinne, dass der weitere Verbrauch dieses Jahres zu Lasten der natürlichen Substanz gehen wird. Also grob gesprochen: Sieben Monate ist rein rechnerisch nachhaltig gewirtschaftet worden, für die restlichen fünf Monate geht der Verbrauch auf Kosten künftiger Generationen.
Sicherlich lässt sich über die Berechnungsmethode dieses „Erdüberlastungstages“ endlos streiten. Dass wir derzeit auf Kosten von ökologischem Gleichgewicht und Klimastabilität leben, dürfte allerdings außer Zweifel stehen. Ins Zentrum rückt dabei die Frage, wie wir – global, europäisch und national – damit umgehen. Dieses Thema habe ich jüngst in einem Essay der WirtschaftsWoche aufgegriffen. Er wird im Folgenden wiederabgedruckt. Meine Schlussfolgerung ist eindeutig: Nicht Enthaltsamkeit hilft, sondern allein neues technisches Wissen. Dafür brauchen wir keine Appelle der Angst, sondern eine weltweite Arbeitsteilung der Köpfe.
Das Elend der Enthaltsamkeit
WirtschaftsWoche, 22. Juli 2022
Es ist mal wieder so weit! Namhafte Politiker rufen zu mehr Enthaltsamkeit auf in Anbetracht der Knappheit an Energie. Apokalyptiker haben eine Sonderkonjunktur. Ihre Botschaft: Wir müssen in Deutschland ganz grundsätzlich anders wirtschaften, als wir dies bisher getan haben. Die Zeit ist überreif für eine Umkehr – weg vom schnöden Konsum, der unser Klima zerstört, unsere Ressourcen auffrisst und uns abhängig macht. Das Ziel: eine Welt des disziplinierten Verzichts.
Wie der Weg dorthin aussehen soll, bleibt meist im Nebel des Unbestimmten. Im Kern geht es um eine massive Lenkung des menschlichen Verhaltens – weg von der freien Entscheidung für Wohlstand und Wohlergehen, hin zu einem Verhalten, das Normen entspricht, über die Politiker und Fachleute aus der Wissenschaft bestimmen. Es ist konzeptionell der Weg in eine „Herrschaft der Experten“. Der Staat fixiert Steuern und Subventionen, erlässt Verbote und Vorschriften und erzieht junge Menschen in einer Weise, die ihnen immer mehr Einsicht in die Richtigkeit ihres Konsumverzichts vermittelt.
Es ist ein Leitbild, das mit Freiheit und Eigenverantwortung wenig zu tun hat. Natürlich lässt die politische Realität viele Grauzonen zu. Und man muss nicht bei jedem lenkenden Eingriff des „Nudging“ gleich die totalitäre Pranke eines allwissenden und allmächtigen Staats wittern. Allerdings ist Vorsicht angebracht, denn Megaideologien der Weltverbesserung haben bisher eine niederschmetternd schlechte Leistungsbilanz, ökonomisch und humanitär. Man denke nur an den sowjet-sozialistischen Weg in das kommunistische Nirwana, der vor drei Jahrzehnten in einem kompletten Zusammenbruch sein Ende fand, oder auch an die noch laufenden Erziehungsdiktaturen des Islamismus, deren Niedergang noch aussteht.
Tatsächlich ist das Elend der Enthaltsamkeit als Schlüssel zur Weltverbesserung grundsätzlicher Art. Es liegt in der Vorstellung des Wachstums als quantitativem – nicht qualitativem – Phänomen. Diese Sicht ist irrig, jedenfalls für hoch entwickelte Industrienationen. Nicht immer mehr vom Gleichen ist der Kern des modernen Wirtschaftswachstums, sondern immer neue innovative Waren und Dienstleistungen sind es. Nur mit diesen Neuheiten lassen sich ökonomischer Wohlstand und ökologische Verträglichkeit auf Dauer vereinbaren. Mit den tradierten Produkten geht das nicht, was uns im täglichen Leben intuitiv auch klar ist: Wer will zurück zur Motorenleistung und Emissionsbilanz von Autos aus dem 20. Jahrhundert? Wer will zurück zum Mainframe-Computer der Achtzigerjahre – mit jämmerlicher Speicherleistung und hohem Energieverbrauch? Wer will zurück zu grässlich gesüßten deutschen Weinen im Vergleich zu den vorzüglichen – und preiswerten – Gewächsen, die heute den Markt beherrschen?
„Nicht der Verzicht liefert den Schlüssel zum Erreichen globaler Klimaziele, sondern der technische Fortschritt – global angewandt. Wir sind
mehr denn je auf weltweite Arbeitsteilung angewiesen“
Kurzum: Fortschritt liegt in Qualität und Vielfalt, nicht in Masse und Gleichförmigkeit. Genau darin besteht der überragende Vorteil einer Marktwirtschaft mit ihrer permanenten dezentralen Suche nach Neuem, ganz im Sinne der Innovationskraft, die schon Joseph Schumpeter 1911 als treibende Kraft der wirtschaftlichen Dynamik erkannte; und auch ganz im Sinne des „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“, wie ihn Friedrich Hayek beschwor.
Das kann die Planwirtschaft nicht leisten, und daran vor allem ist sie historisch gescheitert. Aber auch „weichere“ Formen der Planwirtschaft im Sinne der Durchsetzung des Verzichts werden in dieser Hinsicht versagen. Denn ihnen fehlt der zuverlässige Kompass, wo und wie die Menschen zu geringsten Kosten und mit attraktiven Alternativen zur Anpassung ihrer Verbrauchsmuster veranlasst werden können. Auch die klügsten Wissenschaftler haben diesen Kompass nicht, von den politischen Entscheidungsträgern ganz zu schwiegen.
Die Ergebnisse der Evolution müssen eben offenbleiben. Technologische Optionen dürfen nicht mit Ge- und Verboten verbaut werden, denn sonst drohen ganze Äste und Zweige der möglichen Entwicklung zu vertrocknen. Es war deshalb auch absolut richtig, dass zuletzt auf Drängen der Liberalen die Option des Verbrennungsmotors mit synthetischen Kraftstoffen auf der Ebene der Europäischen Union offengehalten wurde, auch wenn derzeit die Mehrzahl der Experten an den alleinigen Siegeszug des Elektromotors glaubt. Eine „offene Gesellschaft“ im Sinne des Philosophen Karl Popper schließt die technologische Offenheit mit ein.
Die Rettung der Welt ist eine globale Aufgabe
Zu präzisieren ist schließlich die geografische Dimension einer Rettung der Welt. Die Antwort lautet: Es handelt sich um eine globale Aufgabe – die globalste, die man sich vorstellen kann. Nur wenn sich die Welt als Ganzes an dem Prozess der innovativen Evolution beteiligt, besteht eine Chance, weltweit Ressourcen zu schonen und den Klimawandel anthropogen zu stabilisieren. Auf Deutschland entfallen gerade mal 2,4 Prozent des globalen Energieverbrauchs und 1,8 Prozent des CO2-Ausstoßes. Daraus folgt natürlich nicht, dass wir uns hierzulande als energie- und klimapolitische Trittbrettfahrer verhalten dürfen – in dem Bewusstsein, dass minimierter Verbrauch in Deutschland die globale Gesamtbilanz kaum verbessert. Es heißt aber, dass wir all unsere Maßnahmen so gestalten sollten, dass sie möglichst die Welt als Ganzes weiterbringen und nicht nur unser eigenes Gewissen beruhigen.
Auch diese Zielsetzung spricht für eine Politik des innovativen Wachstums – und nicht des Verzichts. Ohne Zweifel ist eine industriell und technologisch führende Nation wie Deutschland für die Welt ein extrem wichtiges Entwicklungszentrum neuer Umwelttechniken, die auch in anderen Regionen Einsatz finden können, wo sie quantitativ für den Klimaschutz viel mehr bewirken als hierzulande.
Vielerorts können sie auch als Initialzündung für weitere Forschung und industrielle Entwicklungen dienen – bis hin zum Entstehen ganz neuer Industriezweige wie im Falle der Solartechnik. Als Initiator des technischen Fortschritts in Entwicklungs- und Schwellenländern ist unser Land eine Großmacht, und zwar derart, dass sich längst wie im Falle Chinas und Russlands die Frage stellt, ob nicht geopolitische Erwägungen gegenüber autokratischen Regimen eine gewisse Vorsicht beim Export von Technologien erzwingen. Aber dies ist eine Bremsung im Einzelfall, nicht ein genereller Stopp der Einbindung in die Weltwirtschaft.
In jedem Fall erlaubt erst die globalisierte Anwendung neuester Technik, die spezifischen Standortvorteile in Entwicklungs- und Schwellenländern voll zu nutzen. So ist etwa die Herstellung von Grünem Wasserstoff offenbar im südlichen Lateinamerika in Ländern wie Chile und Uruguay weit effizienter möglich als in Europa. Der simple Grund: Sonne, Wasser und Wind sind dort gleichzeitig, reichlich und ohne Unterbrechungen verfügbar. Damit entsteht jene Kombination an Ressourcen, die erst die nötige kontinuierliche „grüne“ Energiezufuhr erlaubt, um den benötigten Wasserstoff durch Elektrolyse zu produzieren. Standorte in Südeuropa reichen da in der Effizienz nicht heran; Standorte in Deutschland sind sogar weitgehend ungeeignet.
Fazit: Nicht der Verzicht liefert den Schlüssel zum Erreichen globaler Umwelt- und Klimaziele, sondern der technische Fortschritt – global angewandt. Politisch ist es überaus wichtig, diese Erkenntnis zu bewahren, auch in Zeiten dramatischer geostrategischer Verwerfungen, wie sie der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine verursacht hat. Klar ist: Die Energieversorgung Europas wird sich radikal ändern, weil aus Sicherheitsgründen die bisherige Abhängigkeit von Russland in der Versorgung mit Gas, Kohle und Öl nicht so weitergehen darf wie bisher. In diesem Sinne muss die Globalisierung an Resilienz zulegen. Aber das heißt gerade nicht, dass sie zurückgedrängt werden sollte. Das Gegenteil ist der Fall: Mehr denn je sind wir auf eine weltweite Arbeitsteilung angewiesen. Und mit dem Wachstum des Wissens wird sie immer mehr zu einer Arbeitsteilung der Köpfe, nicht nur der Hände.
Dieser Artikel erschien erstmals am 22.07.2022 in der WirtschaftsWoche.