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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Europawahl 2024
Rückkehr zur Realität

Der Sinkflug der Grünen bei der Europawahl ist ein Wegweiser für die Politik: Zeitenwende auch beim Zeitgeist.
Zwei Mitarbeiter einer Firma für Werbeaufsteller bauen ein Wahlplakat der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ nach der Europawahl ab

Zwei Mitarbeiter einer Firma für Werbeaufsteller bauen ein Wahlplakat der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ nach der Europawahl ab.

© picture alliance/dpa | Jan Woitas

Das meiste war keine Überraschung. Die Europawahlen 2024 brachten in Deutschland zu weiten Teilen die erwartenden Ergebnisse, jedenfalls im Vergleich zu 2019: moderate Stärkung der Union und spürbare Stabilisierung der FDP, überschaubare Verluste der SPD und deutliche Gewinne der AfD, weitere Schrumpfung von DIE LINKE und Erfolg des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). All dies entsprach den Erwartungen – mit den üblichen Schätzfehlern der Vorhersagen.

Ein Ergebnis allerdings fiel aus der Reihe: der drastische Einbruch der Grünen. Sie erlebten einen Erdrutsch – von 20,5 Prozent 2019 auf 11,9 Prozent 2024, ein Verlust von fast drei Millionen Wählerinnen und Wählern. Das ist der größte Einbruch, den die Grünen jemals in ihrer Geschichte bei einer deutschlandweiten Wahl erlebt haben. Wohlgemerkt: Mit knapp 12 Prozent und einer Wählerschaft von fast fünf Millionen bleiben sie eine starke politische Kraft, aber eben doch kräftig geschrumpft. Was ist da politisch passiert? Nur eine vorübergehende konjunkturelle Schlappe oder eine dauerhafte Zeitenwende des Zeitgeists?

Es gibt gewichtige Gründe, die dafürsprechen, dass es um eine tiefe, langfristig wirkende Veränderung geht. Eine offensichtliche Ursache ist dabei der allgemeine gesellschaftliche Trend von Mitte-Links nach Mitte-Rechts, deutschland- und europaweit. So kommt die politische Linke – SPD, Grüne und Die LINKE – auf 28,5 Prozent der Stimmen; rechnet man das BWS dazu, sind es 34,7 Prozent, also maximal rund ein Drittel der Wählerschaft. Von einer linken Mehrheit ist Deutschland also sehr weit entfernt, wo weit wie lange nicht mehr. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Krieg in der Ukraine und in Nahost, anhaltende Energie- und Wirtschaftskrise sowie die weiterhin unkontrollierte Zuwanderung treiben die Menschen in Deutschland und Europa um. Dies sind alles Themen, die sich in ihrer unabweisbaren Dringlichkeit vor den Kampf gegen den Klimawandel und die sozialpolitisch abgefederte ökologische Transformation unserer Wirtschaft geschoben haben, jedenfalls im Bewusstsein der Menschen. „Harte“ Themen wie innere und äußere Sicherheit sowie Wirtschaftswachstum und Asylpolitik stehen nun im Vordergrund. Alles spricht dafür, dass dies auf absehbare Zeit so bleiben wird.

Die proeuropäische Mehrheit kontert erfolgreich den Angriff von rechts

Eine Frau wirft in einem Wahllokal im Bezirk Lichtenberg ihren Wahlzettel für die Europawahl ein

Die Europawahlen 2024 standen im Zeichen hoher Wahlbeteiligung und intensiver politischer Debatten. Trotz des Aufstiegs extrem rechter und linker Parteien konnte die politische Mitte ihre Position behaupten. Dies sichert die Fortsetzung der europäischen Integration, den Schutz demokratischer Werte und eine verstärkte Verteidigungszusammenarbeit. Ein klares Signal an die Welt: Die EU bleibt eine stabile und einheitliche Kraft.

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Jenseits der Krise der Linken gibt es aber auch eine spezifische Krise des grünen Zeitgeists. Sie zeigt sich vor allem in der jüngeren Wählerschaft, die traditionell den Grünen besonders stark zugeneigt ist und in der Prägung des Zeitgeistes eine überragende Rolle spielt. Bei Wählerinnen und Wähler unter 25 Jahren sank von 2019 auf 2024 der Anteil der Grünen laut Exit-Polls von 34 auf 11 Prozent – gegenüber Anteilen von aktuell 17 Prozent (+5) der Union und 16 Prozent (+11) der AfD. Offenbar spüren gerade die jungen Leute mit ihren Zukunftsängsten den Wandel der Herausforderungen besonders stark – und reagieren in ihren Wahlentscheidungen viel flexibler, als die Strategen eigentlich aller Parteien erwartet hatten. Die Dominanz des Geistes der ökobewegten Gymnasiasten, den man noch vor wenigen Jahren mit Fridays-for-Future auf den Straßen beobachten konnte, hat sich weitgehend verflüchtigt. Die schwachen Wahlergebnisse von KLIMALISTE und LETZTER GENERATION – 0,1 bzw. 0,4 Prozent – bestätigen dieses Bild. Offenbar hat die moralische Kraft der flehentlichen Appelle in der Klimapolitik nicht gefruchtet, genauso wenig wie die Neigung der Grünen, jede Kritik daran als „rechts“, „rechtspopulistisch“ oder gar „rechtsextrem“ abzutun. Im Gegenteil, all dies wurde vielleicht von einer schweigenden jungen Wählerschaft zunehmend als moralisierende Belästigung empfunden und führte zu Trotzreaktionen – bis hin zur Wahl der AfD. Ein kommunikatives Desaster!

Vielleicht kommt ein weiteres emotionales Element hinzu, das subkutan seine Wirkung tut. Grüne greifen zunehmend gerne zu apokalyptischen Szenarien, um der Dringlichkeit der Klimapolitik argumentativen Nachdruck zu verleihen. Sie merken dabei nicht, dass sie sich einer Vorstellungswelt bedienen, die eigentlich zum klassischen Repertoire des ängstlichen Konservatismus oder sogar des aggressiv Reaktionären gehört – vom Jüngsten Gericht im Christentum bis hin zum Untergang des Abendlands, wie es Oswald Spengler in den zwanziger Jahren verbreitete und damit im zivilisationskritischen Publikum der Rechten riesige Erfolge erzielte. Linke Vorstellungen der Zukunft waren dagegen stets zuversichtlich und gestaltungsoffen, auch um die Energien der Menschen für die chancenreiche „gute Sache“ zu mobilisieren. Von diesem Optimismus ist bei den Grünen eigentlich nichts übriggeblieben. Ihre Welt besteht nicht aus freiwilliger Motivation der Menschen und Offenheit für neue Technologien, sondern vor allem aus restriktiven Lenkungen und Verboten. Es mag nun durchaus sein, dass die neue – post-grüne (?) – Generation diese Art von Bevormundung doch weit weniger schätzt, als ihr braver urbaner Lifestyle glauben machen könnte. Dies gilt umso mehr, als die klimapolitische Dimension längst natürlichen Einzug in ihr Leben gehalten hat, denn Bioläden gibt es inzwischen überall, das Auto ist längst kein Statussymbol mehr und kaum ein Produkt unserer Wirtschaft wird ohne Bezug zu seiner Umweltfreundlichkeit beworben. Die Welt ist längst, was ihre Werte betrifft, stark ökologisch geprägt. Warum dann – fragen sich viele junge Menschen – die ständige moralisierende Aufregung? 

Kurzum: Das Ergebnis der Europawahl 2024 gibt viele Anstöße zum Nachdenken für Parteistrategen – übrigens nicht nur bei den Grünen. Vielleicht wird es sich noch als eine Zeitenwende des Zeitgeistes erweisen. Wenn dies bedeuten sollte: Rückkehr zur Realität, dann wäre viel gewonnen.