LGBTQI
Fünfter Jahrestag: Entkriminalisierung von Homosexualität in Indien
Seit dem 6. September 2018 ist gleichgeschlechtlicher Sex in Indien keine Straftat mehr. Bereits im Juli 2009 wurden Teile des einschlägigen § 377 im indischen Strafgesetzbuch vom Delhi High Court als verfassungswidrig erklärt. Der oberste Gerichtshof Indiens entschied jedoch im Dezember 2013, dass diese Entscheidung dem Parlament obläge und hob das Urteil wieder auf. Für die indische LBTGQ–Personen war diese Entscheidung ein herber Rückschlag im Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Nach einem erneuten Anlauf wurden 2018 vom obersten Gerichtshof jedoch Tatsachen geschaffen und der Paragraph endgültig für verfassungswidrig erklärt. Diese historische Entscheidung jährt sich nun zum fünften Mal und gibt Anlass, zu schauen, wie es LGBTQ-Personen in Indien seitdem ergangen ist.
Wir sprachen mit Rohan Joshi, Senior Fellow beim Centre for Civil Society und Aktivist. Es hat sich sehr viel getan in der letzten Dekade und insbesondere seit der Entkriminalisierung von Homosexualität im Jahr 2018. Die größte und fühlbarste Veränderung ist die verstärkte Sichtbarkeit von queeren Menschen in Südasien. Auf der ersten Pride Parade in der Stadt Pune in Maharashtra liefen weniger als 100 Personen und diese trugen häufig Masken zum Schutz ihrer Identität. Schon 2018 waren es tausende Teilnehmende, oft offen mit ihren Kolleginnen liefen und von Unternehmen wie bspw. Google, IBM oder der Deutschen Bank unterstützt wurden. Queere Menschen haben auch im Alltag Mut gefasst, sichtbarer zu werden. Sie fürchten Repressalien, Drohungen oder Schmiergeldforderungen von Polizei, Behörden oder Nachbarn weniger. Auch wenn es in der konservativen indischen Gesellschaft noch vorwiegend Vorbehalte gibt, ist jedoch in der relativ kurzen Zeitspanne ein Veränderung in Richtung Akzeptanz und Sicherheit zu spüren. Das zeigt sich bspw. auch darin, dass derzeit im Supreme Court die historische Entscheidung zur Gleichstellung der Ehe und der rechtlichen Anerkennung der Ehe zwischen zwei Personen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ansteht. Bemerkenswert ist, dass für die konservative Regierung Indiens eine Rücknahme der Rechte für LGBTQ-Personen nicht zur Debatte zu stehen scheint. Im neuen Strafgesetzbuch, das derzeit im Parlament diskutiert wird, sind der §377 oder ähnliche Regelungen nicht mehr zu finden. Die Regierung hat beim Supreme Court zwar gegen die Gleichstellung der Ehe argumentiert, die scheint in der Urteilsfindung aber keinen Einfluss auf die Richter zu nehmen.
Ressentiments bauen sich nur langsam ab
Die steigende Akzeptanz ist indienweit zu beobachten und nicht nur in den großen Metropolen wie Mumbai oder Delhi. Queere Menschen haben es aber in den ländlichen und remoten Gegenden weiterhin sehr schwer, selbst beim Coming Out zu ihren eigenen Familien. Für bildungsferne Bevölkerungsgruppen oder arme Menschen ist es sehr viel schwieriger zu verstehen als in Familien mit höherer akademischer Bildung. Einzelne Bundestaaten wie Maharashtra, Tamil Nadu oder Karnataka haben eine Vorreiterrolle eingenommen und bspw. Welfare Boards eingerichtet. Positive Entwicklungen gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere private Arbeitgeber sind progressiv und suchen aktiv nach Mitarbeitern aus der Community, um mehr Diversität in die Belegschaft zu bringen.
Rohan Joshi weist auf eine weitere wegweisende Neuerung hin. Die indische National Medical Commission, die Regulierungsbehörde für medizinische Fachkräfte, hat im August 2022 psychologische Umerziehungstherapien zur sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentitäten als professionelles Fehlverhalten in der Medizin eingestuft und verboten. Gemäß indischem Mental Healthcare Act (2017) ist Homosexualität zudem keine psychische Krankheit oder Störung mehr. Konkrete Hilfen wie Beratungsangebote für die Community fehlen jedoch weiterhin. Mobbing, Ausgrenzung und Missbrauch in den Schulen oder am Arbeitsplatz weit verbreitet sind. Das grundsätzliche Problem ist, dass queere Menschen weiterhin nicht die vollen verfassungsrechtlichen Rechte genießen.
Die Stigmatisierung von Homosexuellen, Transpersonen und Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität ist in weiten Teilen Südasiens gesellschaftlich weiterhin tief verankert. LBTGQ-Themen müssen daher sehr viel mehr in den Medien und vor allem auch im Bildungssystem präsent werden, um die Einstellungen der Menschen von innen heraus zu verändern. Eine offene Thematisierung ist wichtig, um weitere Veränderungen anzustoßen, da trotz aller positiven Entwicklungen der Weg zu voller Akzeptanz, Gleichstellung und Anerkennung noch sehr weit ist.