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Wahlen in Indien
In Indien beginnt nach der Parlamentswahl eine neue politische Ära

Prime Minister Narendra Modi greets people in Varanasi

Narendra Modi rallying in Varanasi before the 18th Lok Sabha elections 2024.

© Prime Minister's Office, Government of India, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons

Regierungschef Narendra Modi erhält eine historische dritte Amtszeit. Im Parlament ist er jedoch geschwächt – und wird künftig Kompromisse eingehen müssen.

Indiens Regierungschef Narendra Modi hat überraschend seine absolute Mehrheit verloren – und feiert sich dennoch als Sieger der Parlamentswahl. "Wir haben uns in jede Ecke des Landes begeben, um den Segen der Bevölkerung zu erhalten", sagte er am Dienstag zum Ende der Stimmauszählung. "Ich verbeuge mich mit Demut vor dem Segen, den wir ein drittes Mal erhalten haben."

Tatsächlich ist dem Anführer der hindunationalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP) ein in Indien seltenes Kunststück gelungen: Er ist der erste Premierminister Indiens nach dem Unabhängigkeitshelden Jawaharlal Nehru, der sich eine dritte Amtszeit in Folge sichern kann. Doch der historische Erfolg wird begleitet von einer Reihe an Niederlagen in Dutzenden Wahlkreisen. Das Endresultat fällt für Modi entsprechend ernüchternd aus und kratzt an seinem Ruf der Unbesiegbarkeit.

Seine BJP gewann zwar 240 der insgesamt 543 Parlamentssitze und wurde damit erneut klar stärkste Kraft. Im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren verlor sie allerdings 63 Mandate – und rutschte damit unter die Schwelle von 272 Abgeordneten, die nötig sind, um mit einer eigenen Mehrheit allein regieren zu können. In der Folge ist Modi in der kommenden Legislaturperiode auf die Unterstützung von verbündeten Parteien angewiesen, die sich mit der BJP in der National Democratic Alliance (NDA) zusammengeschlossen haben. Das Bündnis kommt auf insgesamt 293 Sitze.

Für Indiens Politik bedeutet das eine Zäsur und bringt Modi in eine Situation, mit der er bisher keine Erfahrung gesammelt hat: Seit seiner Zeit als Chef der Regionalregierung im Bundesstaat Gujarat – ein Amt, das er 2001 antrat – regierte er stets mit einer absoluten Mehrheit seiner Partei im Parlament. Noch nie musste er die Interessen unterschiedlicher Parteien in einer Koalition ausbalancieren und so dafür sorgen, dass sein Regierungsbündnis die gesamte Legislaturperiode übersteht. Das dürfte für Modi auch deshalb zur Herausforderung werden, da er bisher nicht gerade durch seine Kompromissbereitschaft aufgefallen ist. Stattdessen ist er bekannt dafür, seinem Kabinett klare Linien vorzugeben, denen sich einzelne Minister unterordnen müssen.

Ein solcher Politikstil dürfte in Zukunft nur noch schwer funktionieren. Seine zwei wichtigsten Koalitionspartner gelten als harte Verhandler, die im Gegenzug für ihre Unterstützung Modis wohl weitreichende Zugeständnisse einfordern werden. Besonders ausgeprägt ist das gegenseitige Vertrauensverhältnis dabei offenbar nicht: N Chandrababu Naidu, eine der zentralen Figuren in Modis Bündnis, machte sich in den vergangenen Jahren als politischer Wackelkandidat einen Namen. Mit seiner Partei TDP, die im südlichen Bundesstaat Andhra Pradesh verwurzelt ist, trat er vor der Wahl vor fünf Jahren aus der Modi-Allianz NDA aus und machte auf Seiten der Opposition Wahlkampf. Erst kurz vor der diesjährigen Parlamentswahl einigte er sich mit der BJP wieder auf eine Zusammenarbeit  – und steuert nun 16 Sitze für die Regierungskoalition bei.

Der zweite starke Mann an Modis Seite ist Nitish Kumar, Chief Minister von Bihar und Anführer der Janata-Dal-(United)-Partei, die zwölf Parlamentssitze erringen konnte. Er war bereits bis vor zwei Jahren Teil von Modis NDA, die er aber im Streit verließ. Er schloss sich anschließend dem Oppositionsblock INDIA an – blieb aber auch da nicht lange. Anfang des Jahres kehrte er zur NDA zurück.

Die Kongresspartei, Indiens stärkste Oppositionskraft, die mit den Verbündeten von INDIA bei der Wahl überraschend stark abschnitt und auf 234 Sitze kommt, versuchte nach der Stimmauszählung bereits, Kumar und Naidu erneut von der NDA abzuwerben und damit eine Modi-Regierung zu verhindern. Doch beide Parteichefs bekräftigten ihre Unterstützung für Modis dritte Amtszeit. Damit dürfte es in Kürze zur Vereidigung der neuen Regierung kommen. Die entsprechende Zeremonie, zu der die Regierungschefs südasiatischer Nachbarländer eingeladen sind, wird für das Wochenende erwartet. 

Ideologische Differenzen drohen aber das Regierungsbündnis zu belasten: Kumar und Naidu führen säkulare Parteien an, die mit einer einseitigen hindunationalistischen Politik, wie sie zumindest von Teilen von Modis BJP propagiert wird, nichts anfangen können. Auch die antimuslimische Rhetorik, mit der Modi und seine Parteifreunde im Wahlkampf Stimmung machten, liegt ihnen fern. Möglich erscheint daher, dass die neue Regierungskoalition einen mäßigenden Einfluss auf Modis Politik hat. Möglich ist aber auch, dass Modi angesichts des relativ schwachen Abschneidens seiner Partei künftig auf eine noch härtere Sprache gegen Muslime setzt, um in der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung Rückhalt zurückzugewinnen.

Dabei hat das Wahlergebnis aber deutlich gemacht, dass religiöse Identitätspolitik nicht ausreicht, um Wahlen zu gewinnen. Besonders offensichtlich wurde das im Wahlkreis Faizabad, wo Modi Anfang des Jahres die Eröffnung eines neuen Tempels für die Hindugottheit Ram auf dem Grundstück einer zerstörten Moschee als landesweites Großevent inszeniert hatte – und damit einen jahrzehntealten Wunsch vieler Hindus Realität werden ließ. Doch trotz der starken Symbolik verlor die BJP den Wahlkreis überraschend an ein Mitglied des INDIA-Bündnisses. Auch in anderen Teilen des Bundesstaats Uttar Pradesh, der den Ram-Tempel beheimatet und als verlässliche BJP-Hochburg galt, verlor die Modi-Partei fast die Hälfte ihrer Parlamentssitze. Modi selbst gewann seinen Wahlkreis in der für Hindus heiligen Stadt Varanasi mit deutlich geringerem Vorsprung als bei der vergangenen Wahl.

Dahinter steht wohl eine Fehleinschätzung der Prioritäten in der Bevölkerung. Statt neuer Tempel und Abgrenzung von Muslimen standen für viele Wählerinnen und Wähler, hierbei besonders bei Frauen und Jüngeren, Probleme bei der Suche nach Arbeitsplätzen und mit den steigenden Lebenshaltungskosten im Vordergrund, unter denen Indien trotz eines starken Wirtschaftswachstums zu leiden hat. Der Opposition gelang es, diese Themen glaubwürdiger aufzugreifen – und sich so als ernstzunehmende Alternative zu Modis Politik zu präsentieren.

In seiner dritten Amtszeit dürfte es daher für Modi eine der Hauptaufgaben sein, Indiens wirtschaftliche Entwicklung so zu gestalten, dass die Zugewinne allen Bevölkerungsschichten zugutekommen. Besonders wichtig ist dabei, das Land als Produktionsstandort attraktiver zu machen – um so jene Arbeitsplätze zu schaffen, die in Indien derzeit fehlen. Die nötigen Reformen in der neuen Koalitionsregierung durchzusetzen, wird kein Selbstläufer sein. Auch die Nachfolgefrage innerhalb der BJP wird sich künftig stärker stellen. Modi selbst gibt sich aber optimistisch, dass ihm die Führung des Landes auch unter den neuen Voraussetzungen gelingt. "Alle Inder werden zusammenkommen und das Land voranbringen", sagte er in seiner Siegesrede und versprach: "Wir werden die dritte Amtszeit nutzen, um neue Kapitel mit mutigen Entscheidungen zu schreiben."