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Wahlen in Indien
Indien hat gewählt: Regierungspartei überraschend ohne eigene Mehrheit

Narendra Modi's rally in Delhi in 2013

Narendra Modi's rally in Delhi in 2013

© CC  BY-SA 2.0 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bc/Narendra_Modi%27s_rally_in_Delhi.jpg

400! Immer wieder wurde diese Zahl im indischen Wahlkampf wiederholt. 400 der 545 Sitze im indischen Parlament wollte die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi bei den Parlamentswahlen gewinnen, am liebsten allein, mindestens aber zusammen mit ihren Koalitionspartnern. Selbst in der Opposition hatten einige an dieses Ergebnis geglaubt. Die meisten Hochrechnungen hatten die Regierungskoalition zuletzt bei etwa 360 Sitzen gesehen. 2019 hatte die BJP 303 Sitze gewinnen können.

Seit dem frühen Morgen des 4. Juni wird nun gezählt und es deutet sich eine ganz große Überraschung an. Die BJP wird mit voraussichtlich unter 250 Sitzen ihre eigene Mehrheit im Oberhaus verlieren – auch wenn sie mit ihren Koalitionspartnern weiterregieren können wird. Eine verfassungsändernde Mehrheit verpasst die Koalition jedoch deutlich. Analysten in Fernsehsendern und den großen Tageszeitungen des Landes überschlagen sich mit Versuchen, das Ergebnis zu erklären.

Insbesondere Entscheider in der Wirtschaft hatten auf ein starkes Abschneiden der BJP und eine Fortsetzung des wirtschaftsfreundlichen Kurses gehofft. Nachdem Hochrechnungen am 3. Juni einen deutlichen Sieg der BJP andeuteten, legte der indische Leitindex dreieinhalb Prozent zu. Nach Beginn der Auszählungen am 4. Juni sackte er zunächst um über acht Prozent ab, erholte sich im Lauf des Tages aber wieder.

Nach zehn Jahren im Amt hat Modi offenbar an Magie eingebüßt. Seine persönliche Popularität kann Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderungen und eine mangelnde Qualität im Bildungssystem nicht mehr überstrahlen. Spekulationen über die Nachfolge des 73-jährigen werden nun lauter werden – ohne dass ein offensichtlicher Nachfolger gesetzt ist. Innerparteiliche Konflikte werden möglicherweise stärker sichtbar.

Da die Regierungskoalition weiterregieren kann, wird gleichwohl eine gewisse Kontinuität erwartet, so in der Außen- und Sicherheitspolitik. Doch kommt mit dem Wahlergebnis eine Dekade der Konzentration politischer Macht in den Händen der BJP und Modis zum Ende. Die indischen Wähler haben demokratischen Instinkt bewiesen. Auch wenn es kurzfristig schwieriger wird, Reformen durchzusetzen, ist das Wahlergebnis langfristig gut für das Funktionieren der indischen Demokratie. Eine weitere Schwächung demokratischer Normen und Institutionen ist nun deutlich schwieriger. Zumindest unter vorgehaltener Hand sind viele Menschen im Land erleichtert. Dieses Gefühl wird in den kommenden Wochen sicher noch stärker zu Tage treten.

Tiefergehende Analysen werden zeigen, wo die BJP die Wahl verloren hat. Bereits jetzt ist jedoch deutlich, dass sie die deutlichsten Verluste in den von Hindus dominierten Bundesstaaten im Norden verkraften musste. Offenbar war sich die Partei der Strahlkraft Modis in diesem traditionell BJP-freundlichen Teil des Landes zu sicher. Der Bundesstaat Uttar Pradesh ist der bevölkerungsreichste und mit 80 Parlamentssitzen wichtigste Bundesstaat. Seit 2017 regiert die BJP den Bundesstaat mit Yogi Adityanath, einem Hardline-Hindu-Priester, an der Spitze der Landesregierung. Im Januar 2024 wurde in Ayodhya, einer Kleinstadt im Bundesstaat, mit großen Fanfaren ein neuer Temple für den Hindu-Gott Ram eingeweiht, nachdem mehr als 30 Jahre zuvor ein Hindu-Mob dort eine Jahrhunderte alte Moschee zerstört hatte. 2019 gewann die BJP 62 Sitze im Bundesstaat – von denen sie nun möglicherweise 30 verlieren wird. Die zunehmend scharfe Rhetorik Modis und Adityanaths gegen Nicht-Hindus – und insbesondere gegen Muslime und gegen das Nachbarland Pakistan – hat die Wähler offenbar eher abgeschreckt als motiviert. Das Bild ist ähnlich in fast allen Bundesstaaten Nordindiens. In Haryana konnte die BJP 2019 alle 10 Sitze gewinnen, nach der Wahl 2024 bleiben ihr vorbehaltlich der endgültigen Auszählung möglicherweise nur noch vier. In Rajasthan geht es runter von 24 auf 14, in Bihar von 17 auf 13.

Ein weiteres Merkmal der politischen Auseinandersetzung war eine verhältnismäßig aggressive Gangart von BJP-Akteuren gegen oppositionelle Landesregierungen. Mehrmals wurden in der letzten Legislaturperiode Landesregierungen zu Fall gebracht, in dem Abgeordnete zum Überlaufen motiviert wurden – eine Strategie, die in Indien nicht unüblich ist und auch nicht nur von der BJP angewendet wird. Oft fließt Geld oder es wird mit Ermittlungen in Fällen echter oder vermeintlicher Straftaten gedroht.

Überraschend gut konnte die BJP in den südindischen Bundesstaaten abschneiden, dem Teil des Landes, in dem sie sich traditionell schwertut. Die Partei wird sich voraussichtlich von 29 auf 30 Sitze (von insgesamt 131) leicht verbessern, die Regierungskoalition insgesamt könnte sich von 30 auf über 50 Sitze verbessern. Ebenso ist das Ergebnis in der Hauptstadt Delhi recht gut. Delhi wird regiert von der oppositionellen Aam Aadmi Party von Arvind Kejriwal. Dieser war wenige Wochen vor der Wahl mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung verhaftet worden, am 10. Mai nach einer Entscheidung des höchsten Gerichts aber vorübergehend wieder auf freien Fuß gekommen. Kejriwal war einer der Hoffnungsträger der Opposition im Wahlkampf. Gleichwohl gelang es der BJP mit einer Ausnahme alle Sitze in Delhi zu verteidigen.