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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Invasion der Ukraine
Eine katastrophale Bilanz

Invasion der Ukraine
Der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar in Moskau.
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picture alliance / AA | Kremlin Press Office/Handout

Was in diesen Stunden und Tagen in der Ukraine geschieht, ist eine Tragödie. Wladimir Putin beginnt einen Angriffskrieg auf einen wehrlosen Nachbarn – ohne Rücksicht auf das Völkerrecht. Man muss keine Neigung zum Pathos haben, um darin das Ende der kooperativen Friedensphase seit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus zu sehen. Dieses begann schrittweise: mit den russischen Interventionen in Georgien 2008 und mit dem Einmarsch in der Krim 2014. Nun ist endgültig Schluss.

Bevor nun eine neue Zeit beginnt, liegt es nahe, eine Zwischenbilanz zu ziehen: Was hat Wladimir Putin in den letzten zwei Jahrzehnten aus seinem Land gemacht? Politisch ist das Ergebnis offensichtlich: eine autokratisch regierte Nation, in der demokratische Regungen aufs Härteste bekämpft und nationalistische Emotionen permanent geschürt würden. Mag sein, dass der Westen daran eine Mitschuld trägt, weil er Russland zu lange einen legitimen Platz in  einer europäischen Sicherheitsarchitektur verweigert hat. Aber jedenfalls ist das Ergebnis niederschmetternd. Und es ist Putin, der dafür die zentrale Verantwortung trägt.

Gelegentlich wird Putin zugutegehalten, dass er dafür Russland auf einen stabilen wirtschaftlichen Pfad zurückgeführt hat. Dies mag für die allerersten Jahre seiner Amtszeit zutreffen – nach Chaos, Inflation und Währungsverfall der Jelzin-Jahre. Aber für die Zeit danach ist Putins Bilanz wirtschaftlich fast genauso traurig wie politisch. Drei zentrale Punkte stechen ins Auge:

  1. Die Rohstoffabhängigkeit: Putin hat es komplett versäumt, die Wirtschaft zu diversifizieren: hin zu einem vitalen gewerblichen Mittelstand, der sich durch zunehmende Innovationskraft und Diversität seiner Produktpalette in den hochtechnologischen Segmenten des Weltmarkts integriert – trotz eines guten Ausbildungsniveaus der Bevölkerung. Der Großteil des Wachstums der Exporte verdankt sich dem Rohstoffboom, der eine kleine Elite (Putin-treuer?) Oligarchen steinreich machte, aber kaum in die Breite der Gesellschaft wirkte. Die Ungleichheit in der russischen Gesellschaft ist gewaltig und sucht weltweit ihresgleichen. Das Gefälle zwischen den teuren Zentren wie Moskau und St. Petersburg einerseits und dem flachen Land der russischen Provinz übertrifft alles, was man an derartigen regionalen Unterschieden in anderen Industrienationen findet.
     
  2. Die Kapitalflucht: Die Klasse der reichen Oligarchen verschob ihr riesiges und weiter wachsendes Vermögen ins Ausland – aus Misstrauen in die Stabilität der eigenen Regierung und deren Machtstrukturen. Ein Großteil der beachtlichen Überschüsse der russischen Leistungsbilanz wurde Jahr für Jahr in Immobilien, Fußballclubs oder sonstige Aktiva in London, Berlin, der Schweiz, Zypern oder sonst wo geparkt. Vermögen in der geschätzten Größenordnung bis zu einer Billion US-Dollar schlummern im Ausland – statt in Russland investiert zu werden und für das Wohl und die Zukunft seiner Bürgerinnen und Bürger zu arbeiten. Was zum Beispiel vergleichbar reiche Amerikaner allein an Vermögensmassen für ihre Privatuniversitäten stiften und spenden, gibt es nicht in Russland – trotz extrem konzentrierter Vermögensmassen.
     
  3. Das Wirtschaftswachstum: Seit der Eroberung der Krim – inzwischen schon acht Jahre her - hat Russland gegenüber dem Westen wirtschaftlich deutlich an Boden weiter verloren. Dies liegt weniger an den Sanktionen, die eher als Nadelstiche wirken, als an den strukturellen Defiziten, die einer neuen Dynamik abträglich sind und sich im Trend immer stärker auswirken. Einige Zahlen: Noch 2013 machte die Wirtschaftsleistung Russlands 13,7 Prozent der amerikanischen aus, heute sind es 7 Prozent. In Relation zur Wirtschaftsleistung der EU ging es im gleichen Zeitraum von 12,9 Prozent auf 10,9 Prozent zurück. Die gesamtwirtschaftliche Leistung Russlands entspricht weniger als der Hälfte des deutschen Bruttoinlandsproduktes. Auch das Pro-Kopf-Einkommen Russlands liegt heute gerade mal bei einem guten Drittel des EU-Durchschnitts. Wirtschaftlich ist Russland keine Großmacht – und es entfernt sich immer weiter von dieser Kategorie.

Fazit: Nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch eine verheerende Bilanz. Allerdings eine, die keineswegs bedeutet, dass Russland vor einem massiv erweiterten Arsenal von Sanktionen auf absehbare Zeit einknicken würde. Das Gegenteil ist der Fall: Hohe rohstoffexportbedingte Überschüsse der Leistungsbilanz – zuletzt über 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – haben für riesige Bestände an Devisenreserven gesorgt, auf die der Autokrat Putin getrost zurückgreifen kann. Gleichwohl sind harte Sanktionen absolut richtig und nötig – als politisches Zeichen der gemeinsamen Wertefront des Westens gegen die flagranten Völkerrechtsverletzungen Putins.

Und die Zeit spielt für den Westen. Und zwar selbst dann, wenn Putin eine neue „Ost-Strategie“ der eurasischen Integration verfolgt. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob Russland sich in die Hochtechnologiebereiche der Weltmärkte integriert oder ein Netzwerk der Abhängigkeiten mit den früheren Sowjetrepubliken und ausgewählten Freundesnationen in der Welt pflegt. Ob China dazu gehören wird, ist im Übrigen fraglich, weil China selbst starke Interessen hat, sich anderweitig im Weltmarkt weiter zu integrieren. In einer gestärkten chinesisch-russischen Arbeitsteilung könnte Russland schnell zum reinen Lieferanten von Rohstoffen degradiert werden, ohne jede dynamische Perspektive der Entwicklung.

Kurzum: Düstere Aussichten nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland. Dank Putin. Der Westen kann also durchaus auf lange Sicht selbstbewusst auftreten. Und er muss es auch, soll die derzeitige, äußerst gefährliche Krise bewältigt werden. Eine unsichere Zukunft liegt vor uns.