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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Krieg in Europa
„Reißen Sie die Mauer zwischen uns nieder“

Selenskyi spricht im Bundestag. Er spricht harte Worte. Dies ist berechtigt, was die Vergangenheit betrifft. Die Zukunft aber ist moralisch komplexer.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Live-Schaltung aus Kiew in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Berlin, 17.03.2022

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Live-Schaltung aus Kiew in der 20. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Berlin, 17.03.2022

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picture alliance / Geisler-Fotopress | Sebastian Gabsch/Geisler-Fotopre

Es war im Wesentlichen die vernichtende Bilanz der deutschen Haltung gegenüber Russland in der Ära Merkel, für die Nord Stream 2 beispielhaft steht: Vertrauen in das Wort eines Diktators, der zweimal – im Georgienkrieg 2008 und bei der Eroberung der Krim 2014 – bewiesen hatte, dass er sich um Völkerrecht nicht schert und die Akte von Helsinki 1975 mit Füßen tritt. Längst war für die meisten östlichen Mitteleuropäer klar: Die westlichen Nachbarn Russlands betrachtet Putin im Geist von Yalta als „Einflusszone“. Davor waren deutsche Politiker wieder und wieder gewarnt worden. Aber sie betrieben „business as usual“. Symbol dafür war Nord Stream 2, das hierzulande viel zu lange als ein rein wirtschaftliches – und kein politisches – Thema behandelt wurde.

Eine beschämende Bilanz, gespeist aus wohlmeinender pazifistischer Naivität und handfesten wirtschaftlichen Interessen. Damit ist jetzt Schluss – sowohl mit dem bedingungslosen Pazifismus als auch mit der Vorstellung, Ökonomie und Politik ließen sich sauber trennen. Deutschland ist zurück in der geopolitischen Realität. Insofern hat Selenskyi vollkommen Recht, den Deutschen mit klarer Wortwahl den Spiegel vorzuhalten.

Komplexer wird es, wenn es um die politische, militärische und wirtschaftliche Behandlung des laufenden Krieges geht. Hier fordert Selenskji unverblümt das maximale Engagement der NATO. Vor allem will er die Durchsetzung einer Flugverbotszone über der Ukraine, um – wieder ein historischer Hinweis an die Deutschen – eine Luftbrücke der Versorgung aufzubauen und das russische Bombardement zu beenden. Im Klartext bedeutet diese Forderung, dass NATO-Waffen russische Flugzeuge vom ukrainischen Himmel herunterholen müssten. Also: eine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen der NATO und Russland. Und damit eine gewaltige Stufe der Eskalation.

Es ist das gute Recht von Selenskyi, diese Forderung an den Westen zu richten und im Deutschen Bundestag zu thematisieren. Allerdings ist es auch das gute Recht und sogar die zwingende Pflicht der NATO inklusive Deutschlands, sorgfältig die Risiken dieses Schritts abzuwägen. Und es ist kein moralisches Versagen, wenn diese Abwägung zu dem Ergebnis kommt, dass man weiterhin darauf verzichtet, den ukrainischen Luftraum vor den russischen Aggressoren zu schützen. Es würde sonst immerhin um eine direkte Auseinandersetzung zwischen Atommächten gehen, die in einem Weltkrieg enden kann. Es hat nichts mit pazifistischer Naivität zu tun, wenn die NATO diese Risiken scheut. Das muss auch Wolodomyr Selenskyi einsehen, auch wenn er es öffentlich nicht ausspricht.

Ob dabei das Bild einer Mauer zwischen der Ukraine und Deutschland, das Selenskyi verwendet, für die Zukunft emotional hilfreich ist, kann dahinstehen. Mit Blick auf die Vergangenheit hat er vollkommen Recht, wenn er Deutschland Versagen vorwirft. Mit Blick auf NATO-Interventionen in diesem Krieg ist allerdings bei der moralischen Bewertung von allen Seiten Vorsicht geboten.