Eskalation in der Westsahara
Zwischen den marokkanischen Streitkräften und der Befreiungsbewegung der Frente Polisario ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Scharmützeln und Streitigkeiten gekommen. Dass eine Partei das Waffenstillstandsabkommen von 1991 nicht mehr respektieren möchte, markiert jedoch eine neue Stufe der Eskalation und gibt in der Region großen Anlass zu Sorge.
Marokko beansprucht das Gebiet der Westsahara seit Ende der spanischen Kolonialherrschaft im Jahr 1975 für sich. Die Frente Polisario (Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro) dagegen kämpft seit 1973 mit politischen und militärischen Mitteln für die Unabhängigkeit des 260.000 km² großen Küstenstreifens. Sie hat 1976 einen eigenen Staat ausgerufen, die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), der bisher allerdings nur von ca. 40 afrikanischen Ländern anerkannt ist. Das Territorium wird mit Ausnahme zweier Wüstengebiete im entlegenen Osten jedoch von Marokko kontrolliert. Beide Seiten einigten sich 1991 auf eine Waffenruhe, die seitdem von einer Mission der Vereinten Nationen (MINURSO) überwacht wird.
Das „R“ in MINURSO steht außerdem für ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara, welches, so der ursprüngliche Plan der Weltgemeinschaft, unter der Ägide der Vereinten Nationen organisiert werden sollte. Die Organisation eines solchen Referendums scheiterte jedoch immer wieder an der Frage nach der Definition der Abstimmungsberechtigten – und nicht zuletzt auch am Widerstand Marokkos. Nach fast dreißig Jahren scheinen nicht einmal mehr die Vereinten Nationen daran zu glauben, dass eine Abstimmung jemals stattfinden wird. In der jüngsten Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Verlängerung des MINURSO-Mandats vom Oktober wird die Volksabstimmung erstmals nicht mehr erwähnt.
Die Vereinten Nationen setzen fortan auf eine politische Verhandlungslösung. Konkret könnte das bedeuten, dass die Westsahara anerkanntermaßen eine Provinz Marokkos mit weitreichenden Autonomierechten würde. Manche internationalen Beobachter halten eine solche Lösung für vorteilhaft, weil Marokko besser in der Lage sei, das Territorium zu kontrollieren und wirksam gegen Terrorismus und Drogenschmuggel in der Wüste vorzugehen. Die Polisario lehnen eine solche Lösung vehement ab. Ihre weltweite Lobby schwindet angesichts eines zunehmenden Pragmatismus in der internationalen Gemeinschaft jedoch zusehends.
Genau dieser Haltungswechsel in der UN-Rhetorik könnte die jetzige Eskalation ausgelöst haben. Denn nachdem die Entwürfe der UN-Sicherheitsratsresolution 2548 erstmals durchgesickert waren, drangen Anhänger der Polisario Mitte Oktober in die demilitarisierte Pufferzone im Süden der Westsahara vor, besetzten den Grenzübergang zu Mauretanien und verwüsteten teilweise Grenzstation und Straße.
Der Grenzübergang von Guergerat ist für Marokko von großer strategischer Wichtigkeit, da es die einzige offene Straßenverbindung des Königreichs mit dem Rest des Kontinents ist. Die Grenzen zu Algerien sind aufgrund der Spannungen zwischen beiden Staaten seit 1994 ausnahmslos geschlossen. Das ähnlich große Deutschland verfügt im Vergleich dazu über mehrere hundert offene Straßenverbindungen zu seinen Nachbarn. Man kann sich also leicht vorstellen, welche Bedeutung dieser Straße für Marokkos innerafrikanischen Handel zukommt.
Infolge der Besetzung der Grenzstraße berichteten Märkte in Mauretanien schnell über Versorgungsengpässe. Mehrere hundert Lastwagen saßen auf beiden Seiten der Grenze über mehrere Wochen fest. Nach längerem Zögern entschloss sich Marokko dann am 13. November mit seinen Streitkräften in die demilitarisierte Zone vorzudringen und die Blockade zu räumen. Ein Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen, den es mit der Aufrechterhaltung des freien Handelsverkehrs rechtfertigte. „Die Polisario und ihre Milizen haben das Gebiet sei dem 21. Oktober besetzt und üben Akte des Banditentums, der Blockade und der Belästigung von UN-Militärbeobachtern aus“, hieß es aus dem marokkanischen Außenministerium.
Die Polisario verurteilten den Einsatz der marokkanischen Streitkräfte dagegen. Ihr Anführer Brahim Ghali ließ verlauten: „das Volk der Sahraoui befindet sich im Krieg und setzt seinen Kampf bis zum Tag des Sieges fort“.
Laut den Vereinten Nationen kam es bei der Räumung der Grenzstraße zwar zu Schusswechseln, über mögliche Opfer ist bislang jedoch nichts bekannt. Die marokkanischen Streitkräfte nutzten die Operation, um das Straßenstück innerhalb der demilitarisierten Zone unter ihre Kontrolle zu bringen und durch einen Wall abzusichern. Ob die neuerliche Eskalation damit beendet ist, wird vor allem davon abhängen, ob die Polisario mit Vergeltungsaktionen, beispielsweise durch Anschläge auf marokkanische Soldaten reagieren werden. Eine wesentliche Rolle kommt dabei Algerien zu, welches den Polisario in seiner Provinz Tinduf Asyl gewährt und dadurch maßgeblichen Einfluss auf die Aktionen der Milizen ausübt.
In jedem Fall dürfte dieses jüngste Kapitel im jahrzehntealten Westsahara-Konflikt vor allem Marokko in die Karten spielen, welches die internationale Anerkennung der Westsahara als marokkanisches Territorium zum wichtigsten Ziel seiner Außenpolitik erklärt hat. Auf dem Weg zu diesem Ziel hat das Königreich dieses Jahr bereits einige diplomatische Erfolge gefeiert. So eröffneten insgesamt 15 afrikanische Staaten Konsulate in Layoune, der größten Stadt der Westsahara. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Jordanien folgen nun sogar zwei arabische Staaten diesem Beispiel.
Im jetzigen Konflikt um die Grenzstraße konnte Marokko sich erfolgreich als Garant von Ordnung und als Hüter des freien Handels präsentieren. Entsprechend äußerte sich auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borell, der zwar beide Seiten zur Einhaltung des Waffenstillstandes aufrief, aber gleichzeitig an die Bedeutung offener Grenzen und freien Handels für den Frieden in der Region erinnerte.
Marokko wird in den nächsten Monaten versuchen, weiteren Rückhalt für seine Ambitionen in der internationalen Gemeinschaft zu finden. Es wird dabei seine strategische Bedeutung gegenüber Europa auszuspielen versuchen, denn das Land sitzt insbesondere in der Migrations- und Energiepolitik an sehr langen Hebeln.
Viele Marokkaner feierten die Ereignisse von Guergerat in den sozialen Medien als diplomatischen und militärischen Erfolg ihres Landes. Darüber hinaus freuten sie sich über einen virtuellen Durchbruch: bei Google maps trennt keine gestrichelte Linie mehr ihr Land von der Westsahara. Dieser Erfolg ist allerdings relativ. Wer Google maps außerhalb Marokkos aufruft, findet die Demarkationslinie nach wie vor. So scheint die weltgrößte Suchmaschine also mit relativen Fakten zur Konfliktlösung beitragen zu wollen, sie zeigt jedem die Welt, wie sie ihm gefällt. Damit die gestrichelte Linie aber wirklich von der Landkarte verschwindet, wird Marokko noch erhebliches politisches Kapital investieren und sich ernsthaft mit den Anliegen der Polisario und ihrer Anhänger auseinandersetzen müssen.