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50 Jahre BF
Eine Quelle der Inspiration

Interview von Celine Imensek mit Anna Kravtšenko
Anna Kravtšenko

Anna Kravtšenko

Anna Kravtšenko ist im russisch-sprachigen Teil von Tallinn, Estland, aufgewachsen. Mit 14 fing sie an, Deutsch zu lernen – weil die Sprache beim Fernsehsender VIVA ihr Interesse weckte – und kam später für ihr Politik-Studium nach Berlin. Dort tritt sie 2009 den Jungen Liberalen (JuLis) bei, wo sie von der Begabtenförderung der FNF erfährt. Nach mehreren beruflichen Stationen im In- und Ausland arbeitet sie seit 2021 als Leiterin des Projektbüros Ukraine und Belarus.

Manche Stips haben schon vor ihrer Bewerbung einen Bezug zu den liberalen Werten der FNF. Wie war das bei dir? Bist du als Liberale zur FNF gekommen oder hat die FNF dich zur Liberalen gemacht?

Ich bin in Estland aufgewachsen und die Menschen in Estland sind generell sehr liberal eingestellt. Die Reformpartei ist seit Jahrzehnten in der Regierung. Außerdem war ich schon vor meiner Bewerbung bei den JuLis aktiv. Ich bin also schon liberal zur FNF gekommen.

Wie hat es sich ergeben, dass du dich eingeschrieben hast?

Ich muss zugeben, dass ich mich sehr spät beworben habe. Erst im letzten Jahr meines Masterstudiums. Das bereue ich heute. Neben meinem Studium und der Arbeit in der Partei habe ich noch gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren. Ich dachte, dass perfektes Deutsch und super Noten Voraussetzung für ein Stipendium wären. 

In Gesprächen mit Stipendiaten aus der Parteijugend habe ich dann gemerkt, dass das ganz normale Leute sind und habe mich endlich auch beworben.

Auch wenn du nicht lange Stipendiatin warst: Was war das Highlight der Begabtenförderung?

Der damalige Leiter der Begabtenförderung, Dr. Christian Taaks, hat mich zu einem Praktikum in der Moldau motiviert. Das war definitiv mein Highlight.

Wieso?

Da meine Mutter aus der Moldau kommt, wusste ich, dass es eines der ärmsten Länder Europas ist. Während meines Praktikums war ich aber das erste Mal im abtrünnigen Gebiet Transnistrien. Diese Armut … Krankenhäuser, die das letzte Mal in den 70ern renoviert wurden, verschimmelte Schulen. Und alles aus rein politischen Gründen. Es war spannend und zugleich belastend dort zu arbeiten.

Hat dich diese Erfahrung weiter beeinflusst?

Davor wollte ich in der Sicherheitspolitik arbeiten. Durch das Praktikum habe ich aber mein Interesse für Entwicklungspolitik entdeckt.

Das erkennt man auch an deinem weiteren Lebenslauf. Nach einem Praktikum bei der FNF in Georgien bist du als Beraterin zur Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gegangen. Du warst 2014 dort tätig, als Russland die Krim annektiert hat. Wie hast du das Ereignis aus dieser Position wahrgenommen?

Meine Familie hat Freunde in der Ukraine. Das war schon eine besondere Situation. Mich hat es aber nicht wirklich überrascht. Schon in meiner Masterarbeit habe ich argumentiert, dass Russland ukrainische Gebiete beanspruchen könnte. Ich habe erst später gemerkt, wie naiv ich diesbezüglich war.

Was meinst du damit?

Ich bin in Estland in einer Parallelgesellschaft – der russisch-sprachigen Gesellschaft – aufgewachsen. Ich habe immer gedacht, dass sich alle Menschen der ehemaligen Sowjetunion gut verstehen. Dass man überall russisch spricht, war normal für mich.

Jetzt verstehe ich, dass das imperialistische Gedankenmuster waren. Ich habe russisch gesprochen, wenn ich die Ukraine besucht habe. Heute spreche ich dort ausschließlich ukrainisch. Weil ich weiß, dass es die Menschen sonst verletzen könnte. Den letzten Schritt meiner persönlichen „Dekolonialisierung“ habe ich mit dem Angriff auf die Ukraine gemacht. Seitdem gibt es einen tiefen Graben zwischen mir und meiner Familie in Estland. Ich sehe, wie die russische Propaganda dort fruchtet.

Der Kontakt fällt sicher schwer. Wie gehst du damit um?

Auch wenn die Gespräche frustrierend sind, führe ich sie weiter. Es tut körperlich weh, zu hören, Butscha sei ein Fake. Aber ich sehe es als meine Pflicht, gegen russische Desinformation vorzugehen. Ich erzähle Freunden und Familie, was meine Mitarbeiter in der Ukraine erleben müssen. Auch, wenn ich weiß, dass es wahrscheinlich keine große Wirkung hat.

Als der Krieg anfing, sind eure lokalen Kollegen in die Westukraine oder die EU gegangen. Du wurdest temporär nach Georgien versetzt. Wie hat sich die Arbeit abgesehen davon verändert?

Komplett. Zu Beginn haben mein Mann und ich in Schichten geschlafen. Einer hatte immer Handys und Nachrichten im Blick. Die Sicherheit meines Teams war das Wichtigste. Anfangs haben wir zusammen mit unseren Partnern Nothilfe geleistet – Erste-Hilfe-Sets und Essenspakete verteilen lassen. Da das keine normale Aufgabe für eine politische Stiftung ist, haben wir dabei sehr viel gelernt. Über unsere Grenzen und unsere Stärken.

Ihr konntet eure Projektarbeit erst nicht weiterführen. Habt ihr sie in der Zwischenzeit wieder aufgenommen?

Mitte 2022 ging es weiter. Im ersten Kriegsjahr haben wir in Kommunen Trainings durchgeführt, um die lokalen Strukturen zu stärken. Dieser Arbeitsbereich ist enorm gewachsen. Wir haben so viele Projekte und Maßnahmen durchgeführt, wie noch nie. Und dieser Trend geht weiter. Die Menschen wollen ihr Land wieder aufbauen – vor Ort, aus eigener Kraft.

Deine Verbindung zur FNF hat dein berufliches Leben begründet. Hatte dein Stipendium Einfluss auf dein Privatleben?

Ich habe viele Menschen kennengelernt. Die Kontakte, die man im Stipendium knüpft, bleiben. Außerdem hat es mein Selbstbewusstsein gestärkt. Ich denke nicht, dass ich ohne mein Praktikum in Georgien den Mut gehabt hätte, für die GIZ nach Kirgisistan zu gehen – ein Land, das ich gar nicht kannte.

Hast du zum Abschluss noch einen Tipp für aktuelle und zukünftige Stipendiaten?

So früh wie möglich bewerben! Und nutzt die Bildungsangebote der Stiftung. Die FNF ist für euch nicht nur eine finanzielle Quelle, sondern kann und soll eine Quelle der Inspiration sein.

 

Celine Imensek studiert BA Crossmedia Redaktion/Public Relations in der Hochschule der Medien in Stuttgart und ist seit 2021 FNF Stipendiatin. ie ist Teilnehmerin der Profi Class der Liberale Medienakademie (LMA).