Polen
Polen muss Gesetz zur Disziplinierung von Richtern aussetzen
Die polnische Regierung hat vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine empfindliche Niederlage erlitten. Dort hatte die EU-Kommission geklagt, da sie befürchtet, dass die nationalkonservative Regierung die Gewaltenteilung aushöhlen möchte. Nun wurde dem Antrag vom Januar 2020 stattgegeben. Der Urteilsspruch ist klar und deutlich: die von der polnischen Regierung eingesetzte Disziplinarkammer für den Obersten Gerichtshof muss unverzüglich suspendiert werden.
Zum Hintergrund: Die nationalkonservative Regierung unter Führung der PiS-Partei betrachtet das unabhängige Agieren der Justiz, vor allem wenn es die Verfassungsmäßigkeit von Regierungsmaßnahmen betrifft, als eine Einmischung in den Volkswillen durch eine abgehobene „Kaste“ von Richtern. In diesem Sinne versuchte sie von Anfang an, die Gewaltenteilung auszuhebeln und die beiden wichtigsten Gerichte unter ihre politische Kontrolle zu bekommen.
Der Verfassungsgerichtshof wacht über die Verfassungskonformität von Gesetzen und über völkerrechtliche Verträge. Der polnischen Regierung ist es mehr oder minder gelungen, dieses Gericht unter ihre Kontrolle zu bringen. 2016 wurde die PiS-nahe Richterin Julia Przyłębska durch den ebenfalls PiS-nahen polnischen Präsidenten Andrzej Duda zur Präsidentin des Gerichts benannt – unter Umgehung des Gerichts selbst, das laut Verfassung seinen Präsidenten selbst wählen muss. Das Parlament hatte vor der Wahl im Oktober 2019 Richter bestimmt, die nach der Wahl von der neuen PiS-Mehrheit wieder ausgetauscht wurden.
Darüber hinaus ist das so genannte „Oberste Gericht“ die Letztinstanz in polnischen Straf- und Zivilrechtsangelegenheiten. Da die Abgrenzung zum Verfassungsgericht unscharf ist, ist das Gericht auch bei der Beurteilung von Regierungshandeln wichtig. Die Regierung versuchte 2018, missliebige Richter durch eine Änderung des Ruhestandsalters loszuwerden. Das betraf vor allem die Gerichtspräsidentin Małgorzata Gersdorf. Nach massiven Protesten – insbesondere von Seiten des Europäischen Parlaments und des Europarats (Venedig-Kommission) – zog der polnische Präsident das Gesetz wieder zurück. Dies war einer der wenigen Fälle, in der er der Regierung widersprach. Seither suchte die PiS-Regierung neue Wege, das Oberste Gericht „handzahm“ zu machen.
Im Jahr 2018 führte die Regierung einfach ein „neues Gericht“ ein, nämlich eine so genannte Disziplinarkammer, deren Aufgaben lauten: Disziplinarangelegenheiten gegen Richter am Obersten Gericht, gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit, gegen Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare zu verfolgen. Die Richter der Kammer werden vom Präsidenten der Republik Polen ernannt, und zwar aus einer Vorauswahl des Landesjustizrats, der wiederum vom Parlament mit einfacher Mehrheit gewählt wird. Der Europäische Gerichtshof bestätigte nun, dass dieses Verfahren klar die Gewaltenteilung aushebelt, da auf diese Weise immer eine Regierungsmehrheit die Besetzung der Disziplinarkammer bestimmt. Tatsächlich wurden bisher fast ausschließlich Staatsanwälte aus dem Umfeld des Justizministers Zbigniew Ziobro einberufen, der als besonderer Hardliner in der PiS-Regierung gilt.
Mehr noch: Zusammen mit der Einrichtung einer Disziplinarkammer wurde noch das sogenannte „Maulkorbgesetz“ erlassen. Es sieht Strafen für Richter vor, die die Gerichtsreform kritisieren – oder gar berufene Richter in Frage stellen. Über die im Gesetz vorgesehenen Sanktionen sollte ebenfalls die Disziplinarkammer „gerichtlich“ entscheiden.
Gegen diese Disziplinarkammer hat der EuGH nun sein Urteil gefällt, nachdem er noch im November 2019 den Fall an das polnische Oberste Gericht zurückverwiesen hatte. Das Oberste Gericht beschloss auch umgehend, dass die Disziplinarkammer nicht hinreichend unabhängig von der Exekutive sei, ja im Prinzip deren Ausführungsorgan. Sie sei daher nicht als Teil der Justiz erkennbar und dürfe auch entsprechende Urteile nicht fällen. Die Disziplinarkammer arbeitete auf Geheiß der Regierung und mit deren Deckung dennoch weiter.
Deshalb beantragte die EU-Kommission am 23. Januar 2020 (unterstützt durch Belgien, Dänemark, die Niederlande, Finnland und Schweden) eine einstweilige Verfügung auf vorläufiigen Rechtsschutz beim EuGH gegen Polen. Demnach solle 1. jede Anwendung der Bestimmungen der Disziplinarkammer bezüglich des Obersten Gerichts bis zu einem endgültigen EuGH-Urteil in der Sache (Vertragsverletzungsverfahren) eingestellt werden, und 2. es unterlassen werden, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, und 3. der EU-Kommission sämtliche von der polnischen Regierung erlassenen Maßnahmen mitgeteilt werden, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen. Der EuGH kam diesem Ansinnen nun uneingeschränkt nach. Sollte diesen Forderungen nicht Rechnung getragen werden, könne die EU-Kommission beim EuGH Bußgelder gegenüber Polen beantragen.
Die polnische Regierung hat umgehend erklärt, dass sie das Urteil so nicht akzeptiere. Ministerpräsident Morawiecki erklärte in einem Statement, die Justizreform stehe ausschließlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Regierung wird den EuGH-Beschluss daher an das Verfassungsgericht weiterleiten. Auch der Staatssekretär im Justizministerium Sebastian Kaleta betonte, das Urteil verletze die polnische Souveränität – das Standardargument der Regierung in allen Fällen, bei denen die EU Kritik an der Aushebelung der Justizunabhängigkeit in Polen äußert.
Andererseits haben viele Richter, darunter der Vorsitzende des Richterverbandes Justitia Krystian Markiewicz, das Urteil begrüßt. Auch Oppositionspolitiker wie der Chef der liberalen Partei „Nowoczesna“ Adam Szłapka, betonten, dass die EU-Kommission nun „gegen diese Farce“ vorgehen könne.
Der Machtkampf zwischen EU-Kommission und polnischer Regierung ist mit dem Urteil in eine neue Stufe getreten. Die EU muss nun Härte beweisen, denn die Regierung hat seit ihrer Wiederwahl im Oktober 2019 ihren Kurs eher radikalisiert. Andererseits stellt sich die Frage, wie weit sie in dem Konflikt gehen kann, der sich, wie Kommentatoren meinen, zum „schleichenden Polexit“ auswachsen könne. Den möchte – nicht zuletzt aufgrund der hohen EU-Subventionen für Polen – selbst eine überwältigende Mehrheit der PiS-Wäher nicht. Aber man kann sich leider nicht darauf verlassen, dass diese Einsicht die Regierung tatsächlich mäßigt.