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Italien
Geht in der italienischen Justiz alles mit rechten Dingen zu?

Der Justizpalast in Rom.

Der Justizpalast in Rom.

© picture alliance / Zoonar | ArTo

An einer Reform der chronisch überlasteten und ineffizienten Justiz haben sich in Italien schon viele Regierungen versucht. Mehrfach wurde das Land vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu hohen Geldstrafen verurteilt. Der Status quo ist untragbar – wenig verwunderlich also, dass die EU die Auszahlung ihrer Aufbauhilfen an Reformen im Justizwesen geknüpft hat. Seit September 2022 ist die Regierungskoalition der rechtspopulistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit deren konkreten Umsetzung betraut – Zeit, unter diesen Vorzeichen genauer hinzuschauen.

In keinem anderen Land der EU sind Zivil- und Strafrechtsprozesse so langwierig wie in Italien. Das schwächt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz– nur das Vertrauen in die Politiker ist noch geringer ausgeprägt. Und es kostet die Volkswirtschaft viel Geld, laut dem Justizminister Carlo Nordio jährlich 2% des BIPs. Wiederkehrende Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof wegen Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) führen zu jährlichen Geldstrafen in Millionenhöhe; ausländische Investoren werden abgeschreckt.

Um das hochverschuldete Land wieder auf einen nachhaltigen Wachstumskurs einzuordnen, hat die EU ihren größten Nutznießer des Corona-Hilfspakets zu konkreten Reformzielen im Justizwesen verpflichtet: bis 2026 soll die Dauer von Strafverfahren innerhalb von fünf Jahren um 25 Prozent und in Zivilverfahren um 40 Prozent verkürzt werden; die Zahl der hängigen Fälle im Zivilrecht soll um 90 Prozent sinken. Finanziell betrifft die Justiz nur ein kleiner Teil der Mittel des Aufbauplans von rund 200 Milliarden Euro, doch werden ihre Ziele nicht erreicht, entfällt das Gesamtpaket.

Kontroverse um Cartabia-Reformen

Viel zu tun also für Ministerpräsidentin Meloni und ihren Justizminister. Die vom Ex-Regierungschef Mario Draghi eingeleiteten und nach der ehemaligen Präsidentin des Verfassungsgerichts Marta Cartabia benannten „Cartabia-Reformen“ führen sie fort: Zur Beschleunigung von Verfahren soll u.a. die Staatsanwaltschaft nur noch anklagen, wenn absehbar ausreichend Beweismaterial zu einer Verurteilung vorliegt. Im Zivilrecht sorgen Mediatoren und im Richteramt Assistenten, die im Auftrag der Richter Urteilsentwürfe verfassen, für Entlastung. Der kürzlich von Justizminister Nordio vorgelegte Gesetzesentwurf zur Verschlankung von Verfahren setzt auf die Einschränkung von Abhörmaßnahmen innerhalb von Ermittlungsverfahren als Beweismaterialien. Viele Juristen kritisieren den Gesetzentwurf; anstatt wertvolle Beweismaterialien abzutun, sollten Fälle priorisiert werden und die Dauer der Voruntersuchung je nach Schwere der Fälle angepasst werden.

Italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni

Italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni

© picture alliance / NurPhoto | Maxym Marusenko

Die Verschärfung der Offenlegung einer bestimmten Kategorie von Ermittlungsmaßnahmen, nämlich des Abhörens, hat für viel Aufsehen gesorgt. Gegner dieser Verschärfung argumentieren, dass sie eine ungerechtfertigte Einschränkung des Rechts der Öffentlichkeit auf Information darstellt. Die Kritik geht jedoch für Andrea Bitetto, Senior Research Fellow des Centro Einaudis, an der Sache vorbei: „Abhörungen sind Ermittlungshandlungen, d.h. sie werden - richtigerweise - ohne das Wissen der abgehörten Person durchgeführt. Sie finden in der Anfangsphase eines Strafverfahrens statt, die noch nicht die "Hauptverhandlung" ist. Die Geschworenen sind für die Dauer ihrer Amtszeit von der öffentlichen Meinung isoliert, eben um nicht den Stimmungen der öffentlichen Meinung ausgesetzt zu sein. Außerdem sind die Ermittlungen und ihre Ergebnisse Aufgabe der Staatsanwaltschaft, während der Prozess die Beteiligung des Angeklagten an seiner eigenen Verteidigung voraussetzt. Wenn es sich um eine kontradiktorische Verhandlung handelt - es gibt mehrere alternative Verfahren, die ohne Öffentlichkeit der Verhandlung durchgeführt werden -, kann jeder, auch ein Berichterstatter, den Zeugenaussagen beiwohnen und Zeuge der Beweisaufnahme werden. Es schadet dem Prozess nicht, die Verbreitung von Abhörmaßnahmen einzuschränken. Im Gegenteil, es verhindert die Bildung eines Vorurteils, d. h. die Bildung einer Meinung, ohne die Position des Angeklagten gehört zu haben“.

Bewertung von Richtern und Staatsanwälten durch den Richterrat

Geplant ist nach dem Willen Melonis außerdem eine Bewertung von Richtern und Staatsanwälten durch den Richterrat. Noten als Druckmittel für schnellere Verfahren und gegen Fehler und Verzögerungen in Gerichtsprozessen? Zuletzt hatte der Fall des fälschlich wegen dreifachen Mordes auf Sardinien verurteilten und 30 Jahre eingesessenen Schäfers Beniamino Zuncheddu für Wirbel gesorgt. Die rechte Regierung sah in dem Vorfall einen Beweis für die Rechtmäßigkeit ihrer Forderung. Die Frage ist nur, wie soll eine effiziente Ausführung genau definiert und eine unabhängige Bewertung sichergestellt werden?

Der eigentliche Stresstest für die Reformfähigkeit des Strafrechtssystems wird die Durchsetzung der angestrebten Trennung der Karrierelaufbahnen von Richtern und Staatsanwälten sein, so dass ein Wechsel der Tätigkeit nicht mehr möglich ist. Dafür ist eine Verfassungsänderung notwendig, denn vor dem Hintergrund der Erfahrung mit einem faschistischen Regime ist die richterliche Unabhängigkeit im italienischen Justizsystem durch starke Garantien festgeschrieben.

Der Justizausschuss des Senats sprach sich vor Kurzem mit der Zustimmung aller Regierungsparteien sowie den liberalen Parteien Italia Viva und Azione mit klarer Mehrheit für einen weiteren wichtigen Punkt auf Melonis Reformagenda aus: der Abschaffung des Amtsmissbrauchs als Strafbestand. Andrea Bitetto sagt: „Nach Ansicht der Befürworter der Aufhebung ist die Definition dieses Straftatbestands zu allgemein und birgt die Gefahr, dass Beamte Angst haben, Entscheidungen im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu treffen. Außerdem würde sich diese Vorschrift angesichts der geringen Zahl von Verurteilungen (nur 18 Verurteilungen im Jahr 2021 bei mehr als 4.700 Anklagen) als inhaltsleer erweisen. In der Tat wurde Amtsmissbrauch am häufigsten zusammen mit anderen Straftaten wie bspw. Bestechung angefochten. Gegen eine Abschaffung spricht die generelle Abschreckung zur Prävention durch diese Straftatbestandsregelung“.

 

Dringender Modernisierungsbedarf

Für einen bitteren Beigeschmack sorgt die Tatsache, dass der Gesetzesentwurf zeitgleich mit Verfahren gegen zwei Angehörige von Melonis Regierung, der Tourismusministerin Daniela Santanché sowie dem Staatssekretär Andrea Delmastro, zusammenfällt. De facto schützt die Maßnahme korrupte Politiker. Leider ist die politische Instrumentalisierung von Reformvorhaben in Italien keine Seltenheit. Im Umgang mit der italienischen Justiz und Kritikern setzt Meloni auf Konfrontation; die Richter würden vor den Europawahlen Politik auf Seiten der Opposition machen, polterte sie in altbekannter, rechtspopulistischer Manier. Richter und Staatsanwälte mit Anschuldigungen zur eigenen Profilierung in der öffentlichen Meinung anzugreifen, untergräbt das Vertrauen in die Justiz und in den Rechtsstaat.

Womöglich sind bei all dem politischen Reformeifer einschließlich Eingriffen in die Verfassung vor allem unspektakuläre, rationale Maßnahmen und Strategie der kleinen Schritte gefragt, um an den Schrauben des verkrusteten Systems zu drehen. Statt der Abschaffung des Amtsmissbrauchs könnte man eine Immunität von Amtsträgern einführen, für eine angemessene Personal- und Finanzausstattung sorgen und die juristische Ausbildung restrukturieren. Die Justiz ist auch deshalb so träge, weil der gut gebildete Nachwuchs fehlt. Die Digitalisierung vom Straf- und Zivilrechtsprozesswesen geht äußerst schleppend voran. Zehn Millionen Gerichtsfälle mit unzähligen Papierakten müssen digitalisiert werden. Eine Mammutaufgabe, deren Umsetzung Jahre dauern wird.

Auf dem Weg zu einer effizienteren Justiz braucht Italien einen langen Atem. Roberto de Vita, Professor der Economic Financial Police School of Guardia di Finanza bringt es auf den Punkt: Eine effiziente Justiz „ist nicht irgendeine Aufgabe, die der Staat zu leisten hat. Die Justiz steht zusammen mit dem Gesundheitswesen und zusammen mit der inneren und äußeren Sicherheit an vorderster Stelle bei der Verteidigung der Bürgerrechte“.

Rahel Zibner, Projektassistentin Spanien, Italien und Portugal, Büro Madrid und Laetitia Keune, Praktikantin im Büro Madrid