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Abtreibungsrecht
„Die AfD würde sich als Partei des Lebensschutzes aufspielen“

Eine Frauenärztin hat die Formulare für einen Schwangerschaftsabbruch vor sich liegen.
© picture alliance/dpa | Jan Woitas

Im Interview mit Dr. Daniel Deckers spricht die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über Selbstbestimmung und das Recht auf Abtreibung. Sie hält die bisherige Regelung für Abtreibungen für ausgewogen und sieht die Vorschläge einer Regierungskommission zur Neuregelung kritisch. Das Interview erschien erstmals am 23. September in der FAZ.

FAZ: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nach der Wiedervereinigung waren Sie als Bundesjustizministerin an den Beratungen über die Zusammenführung des Abtreibungsrechts aus der vormaligen Bundesrepublik und der untergegangenen DDR beteiligt. Hat Sie 2021 der Plan der Ampelkoalition überrascht, den damals im Bundestag gefundenen Kompromiss infrage zu stellen?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Eine rechtspolitische Entscheidung zu überprüfen, die vor mehr als dreißig Jahren getroffen wurde, ist nicht verwerflich. Die Formel im Paragraphen 218 a des Strafgesetzbuchs, wonach ein Schwangerschaftsabbruch in jedem Fall rechtswidrig, aber unter bestimmten Umständen straffrei ist, war nie unumstritten. Und es ist offensichtlich, dass Selbstbestimmung in der Gesellschaft wie in der Rechtsprechung heute vielfach höher gewichtet wird als vor einer Generation. Damit womöglich auch Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper.

Aber Ihre Partei war es nicht, die geprüft wissen wollte, unter welchen Umständen der Schwangerschaftsabbruch auch außerhalb des Strafrechts geregelt werden könnte. Warum nicht, wo Sie sich doch auch persönlich selbst immer für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen eingesetzt haben?

Die FDP hat sich seit der sozialliberalen Koalition in den frühen Siebzigerjahren für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eingesetzt – bis dahin, dass die von der sozialliberalen Bundestagsmehrheit verabschiedete Fristenregelung 1975 vom Bundesverfassungsgericht verworfen wurde. Nach der Wiedervereinigung galt auf dem Gebiet der vormaligen DDR eine nach westlicher Rechtsprechung verfassungswidrige Fristenregelung, in den alten Ländern eine Regelung, wonach Abtreibungen bei dem Vorliegen bestimmter Indikationen legal waren. Nach dem zweiten Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 fand im Juni 1995 im Bundestag die Fristenregelung mit Beratungspflicht eine Mehrheit. Das Recht der Frau, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu entscheiden, und das Recht auf Leben des Ungeborenen, das als Schutzgut in allen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts einen hohen Stellenwert eingenommen hat, wurden darin gut austariert. Ich halte diese Lösung auch heute noch für ausgewogen.

Ginge es nach den Mitgliedern der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, wären Abtreibungen in den ersten Wochen der Schwangerschaft legal und würden spätestens mit dem Zeitpunkt der Überlebensfähigkeit des Embryos außerhalb des Mutterleibs unter Strafe stehen. Warum gehen Sie da nicht mit?

Ich teile die Annahme nicht, wonach sich in der Gesellschaft so viel verändert haben soll, dass das Bundesverfassungsgericht nicht bei seiner bisherigen Rechtsprechung bleiben kann. In dem Bericht finden sich auf mehreren Hundert Seiten ausführliche Erörterungen zu fast allen Aspekten des Schwangerschaftsabbruchs. Warum und wie sich die Einstellungen in der Gesellschaft zu Abtreibungen heute so fundamental von denen vor dreißig Jahren unterscheiden sollen, wird nicht erläutert. Aus den Statistiken lässt sich diese Behauptung nicht herleiten.

Aber hat das Bundesverfassungsgericht selbst nicht immer wieder die Selbstbestimmung zum Ausgangspunkt seiner Rechtsprechung gemacht?

Richtig ist, dass in der Gesellschaft seit den Neunzigerjahren viel mehr Debatten über Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Autonomie in allen ihren Ausprägungen geführt werden als in der Zeit davor. Richtig ist auch, dass die Selbstbestimmung gerade in lebensethischen Kontroversen, etwa über Organspende oder Sterbehilfe, als Manifestation der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein Schutzgut ersten Ranges ist. Aber im Vergleich mit der Abtreibungsproblematik gibt es einen wesentlichen Unterschied. Bei Themen wie Organspende oder Suizid geht es allein um die Verfügungsmacht über den eigenen Körper. Das ist bei einem Schwangerschaftskonflikt anders. In der Zweiheit in Einheit findet das Recht der Frau auf Selbstbestimmung eine Grenze in dem grundgesetzlich geschützten Recht auf Leben des Ungeborenen. Daher kann nicht angenommen werden, dass das Bundesverfassungsgericht nach der Entscheidung über den assistierten Suizid auch das Abtreibungsrecht neu gestalten muss. Wer das Gegenteil behauptet, bewegt sich auf verfassungsrechtlich dünnem Eis.

Die Annahme eines gesellschaftlichen Wandels wird gerne mit der Unterstellung plausibilisiert, vor dreißig Jahren hätten religiös grundierte Überzeugungen eine stärkere Rolle gespielt, als sie es heute spielen würden. Können Sie diese Einschätzung bestätigen?

Karlsruhe hat immer mit Artikel 1 und Artikel 2 des Grundgesetzes argumentiert, nicht mit der Bibel. Weil das Recht auf Leben des Ungeborenen ganz von der Entscheidung der Frau abhängt, stellte und stellt sich die Frage, wie der Staat seiner Pflicht zum Schutz des Lebens gerecht werden kann, ohne die Selbstbestimmung als Abwehrrecht der Frau unverhältnismäßig einzuschränken. An dieser Stelle kam das Beratungsmodell ins Spiel, wonach eine Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei ist, sofern sich eine Frau im Schwangerschaftskonflikt in einer staatlich anerkannten Einrichtung hat beraten lassen, um eine „verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung“ zu treffen.

Das Konzept der Pflichtberatung wird in dem Bericht so dargestellt, als habe es sich wie die prinzipielle Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs überlebt. Können Sie dieser Argumentation folgen?

Die Beratungspflicht hat für die Bewertung der Verfassungskonformität der neuen Fristenregelung eine ganz wichtige Rolle gespielt. Warum Karlsruhe das heute anders sehen sollte, vermag ich nicht zu erkennen.

In dem Bericht wird an mehreren Stellen behauptet, das Bundesverfassungsgericht müsse seine Rechtsprechung aus den Neunzigerjahren auch den Entwicklungen im Europarecht und im Völkerrecht anpassen. Wie ist das zu verstehen?

Die Argumentation, es gäbe zwingende Vorgaben, nach denen das Bundesverfassungsgericht seine Grundannahmen und der Bundestag Paragraph 218 ff. StGB ändern müsse, erschließt sich mir nicht. Es gab immer wieder Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), denen der deutsche Gesetzgeber folgen musste und die auch das Bundesverfassungsgericht aufgegriffen hat. Auf dem Gebiet des Abtreibungsrechts sind mir keine Urteile bekannt, die eine Neuregelung unabweisbar machten. Dasselbe gilt für die Charta der Grundrechte der EU und die völkerrechtlichen Konventionen, die in dem Bericht erwähnt werden.

Wie wird die Debatte über das Abtreibungsrecht in Berlin weitergehen?

Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Bundesregierung die Empfehlungen des Berichts zu eigen machen will. Es könnte aber im Bundestag einen Gruppenantrag von Teilen der Fraktionen von SPD und Grünen und einigen Abgeordneten aus Oppositionsfraktionen geben, in dem die Empfehlungen der Kommission aufgegriffen werden.

Biopolitische Debatten wurden in den vergangenen Jahren im Bundestag immer wieder mit großem Ernst geführt. Sollte es dann anders sein?

Das Thema Schwangerschaftsabbruch hat mehr als viele andere das Potenzial, gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen. Das ist nicht nur in den Vereinigten Staaten so. Meine Sorge wäre, dass eine solche Kontroverse derzeit nicht zu gesellschaftlichem Frieden führt, sondern noch mehr Konflikt schürte. Und die AfD würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, um sich als Partei des Lebensschutzes aufspielen.

Unter den Repräsentanten großer gesellschaftlicher Gruppen hätten die Befürworter einer Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland auf seine Seite. Er hat vor einem Jahr genau das vorgeschlagen, was die Regierungskommission im April empfohlen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Die Stellungnahme hat mich verwundert und ist innerhalb der Kirche sehr umstritten. Ich bin Mitglied und habe mit vielen engagierten evangelischen Christen Kontakt. Die Vielfalt der Meinungen innerhalb der Kirche spiegelt sich in der Einlassung des Rates nicht wider.

Die Regierungskommission ist für ein Recht auf Beratung und sieht in einer Pflichtberatung eher eine Form der Fremdbestimmung. Der Rat der EKD kann einer Pflichtberatung mit der Begründung viel abgewinnen, diese stärke die Autonomie der Schwangeren. Was erscheint Ihnen richtig?

Ein Recht auf Beratung zu haben klingt gut. Aber nach aller Erfahrung mit anderen Angeboten würde sie wohl kaum so intensiv in Anspruch genommen, wie wenn es eine Beratungspflicht gäbe. Ich habe vor und nach der Neuregelung in den Neunzigerjahren viele Gespräche mit Beraterinnen von Pro Familia geführt. Mein Eindruck ist, dass die damals gefundene Regelung auch mit Blick auf die Tragweite der existenziellen Entscheidung die bessere ist. Sich als Frau vor der Entscheidung über die Fortsetzung einer Schwangerschaft beraten zu lassen, kann sehr hilfreich sein.

Sehen Sie denn überhaupt Änderungsbedarf gegenüber dem Urteil von 1992 und der nachfolgenden Entscheidung des Bundestags?

Wenn es in manchen Regionen Deutschlands sehr schwierig ist, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, dann ist dies sicher nicht im Sinn des Gesetzgebers. Hier müssen mehr Angebote geschaffen werden. Noch mehr gilt das für die Übernahme der Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs durch die Krankenkassen. Der Ausschluss der Kostenübernahme, wie er mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1993 beschlossen wurde, bringt für viele Frauen unnötige Belastungen mit sich. Nach dreißig Jahren praktischer Erfahrung mit Politik im Dienst der Besserstellung von Frauen erscheint mir eine gesetzliche Neuregelung nicht nur notwendig und für die Ampel machbar. Sie wäre anders als eine neuerliche Abtreibungsdebatte auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden.

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.