Studie zur Mittelschicht
Mehr Mitte!
Schrumpfende Mittelschicht, sozialer Abstieg, zunehmende Ungleichheit – das sind die Botschaften und Schlagworte, die man in den Talkshows der Massenmedien zu hören bekommt. Die Realität sieht verblüffend anders aus, jedenfalls in Deutschland. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat untersucht, wie sich die Anteile verschiedener Einkommensschichten der Bevölkerung im Zeitraum von 1995 bis 2018 entwickelt haben. Unterschieden wird dabei zwischen einer „Mittelschicht“, die 3.000 bis 8.000 Euro pro Monat zur Verfügung hat, wenn es sich um eine Familie mit zwei Kindern handelt; für Singles reicht die Mittelschicht von 1.500 bis 4.000 Euro, stets in aktuellen Preisen berechnet. Die untere Einkommensschicht liegt jeweils darunter, die obere darüber.
Ergebnis: 2018 gehörten 64 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht, 2005 waren es ebenfalls 64 Prozent, 1995 allerdings noch 76 Prozent. Es ist also in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gelungen, die Schrumpfung der Mittelschicht zu stoppen. Auch bei Zerlegung der Mittelschicht in ein oberes, mittleres und unteres Segment von Einkommensklassen ergibt sich seit 2005 keine nennenswerte Verschiebung. Nur zwischen 1995 und 2005 kam es zu einer deutlichen Schrumpfung, und zwar allein in der unteren Mitte, von 26 auf 22 Prozent; dem stand damals eine Zunahme der unteren Einkommensschicht von 24 auf 27 Prozent gegenüber, ein Anteil, der bis 2018 nur minimal auf 28 Prozent gestiegen ist.
Der Grund für diese auffallende Diskrepanz der Entwicklung in den beiden Teilperioden 1995-2005 und 2005-2018 liegt auf der Hand: Sieht man von Finanz- und Corona-Krise ab, so war die Zeit seit 2005 - ganz anders als die Jahre zuvor - eine Phase des steten Wirtschaftswachstums und vor allem der kräftigen Zunahme der Beschäftigung (und Abnehme der Arbeitslosigkeit). Mehr Jobs erlaubten aber offenbar den Menschen bessere Lebensbedingungen. Und hätte es nicht eine zum Teil unkontrollierte Zuwanderung von Menschen gegeben, die über längere Zeit in der unteren Einkommensschicht verharren, wäre wohl ein kräftiger Aufwärtstrend der Mittelschicht zu beobachten gewesen. Mit der Zuwanderung sorgte der stete Strom von unterdurchschnittlich qualifizierten Neuankömmlingen am Arbeitsmarkt für eine „statistische Bremsung“ der Dynamik.
Kurzum: gar kein so schlechtes Bild, jedenfalls weit entfernt von der düsteren Karikatur eines ausblutenden Mittelstands, die fast überall als Annahme (und nicht als Faktum) den öffentlichen Diskussionen zugrunde liegt. Gleichwohl gilt: mehr Mitte wäre wünschenswert. Und natürlich eine noch stärker aufstiegsfähige Mitte. Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht. Der zentrale Grund ist die demografische Entwicklung: Das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt wird zu Vollbeschäftigung und Knappheit von Arbeitskräften führen, und zwar nicht mehr nur im Bereich hoher Qualifikationsstufen, sondern auch für relativ einfache Tätigkeiten, die nicht mehr als ein Anlernen erfordern. Schon heute werden überall offene Stellen gepostet, deren Besetzung offenbar schwerfällt. Das eröffnet Aufstiegschancen für viele ganz normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bis weit in die unteren Einkommensschichten hinein.
Die Politik darf diese Chance zur Stärkung der Mitte nicht verstreichen lassen. Tatsächlich enthält die Koalitionsvereinbarung der Ampel eine Fülle von Maßnahmen, die in die richtige Richtung gehen. Dazu zählen vor allem die Einführung einer Ausbildungsgarantie für lebenslanges Lernen sowie ein modernes Zuwanderungsgesetz, das gut qualifizierten und motivierten EU-Ausländern erlaubt, nach Deutschland zur Jobsuche zu kommen und dadurch das gesamtwirtschaftliche Wirtschaftswachstum zu befördern, ganz ähnlich wie in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien. Hinzu kommt eine Offensive für Investitionen mit Schwerpunkt im Bereich der Digitalisierung, die gleichfalls neue Innovations- und Wachstumspotenziale erschließt.
Fazit: Bei richtiger Weichenstellung sieht die Zukunft der deutschen Mittelschicht gar nicht so schlecht aus. Der Abgesang auf die Vorstellung des sozialen Aufstiegs, der vor allem im linken Lager der Politik zur üblichen Trauermelodie geworden ist, kommt zur Unzeit. Denn die gesellschaftliche Mobilität nach oben könnte in den nächsten Jahren kräftig an Fahrt gewinnen. Politik und Wirtschaft haben es in der Hand.