EN

EU Integration
Chronologie eines Machtkampfs: Georgiens Präsidentin vor der Amtsenthebung?

Bild Salome Surabischwili

Bild Salome Surabischwili

© FNF South Caucasus

Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili befindet sich in einer seltsamen Lage: Die Partei, ohne die sie vor fünf Jahren nicht ins Amt gekommen wäre, leitet ein Amtsenthebungsverfahren gegen sie ein. Und die Opposition, die der Präsidentin damals in Teilen die Legitimität absprach, könnte Surabischwili heute retten. Wie kam es zu dieser Situation?

Das Amt des georgischen Präsidenten hat nur noch wenig Macht und ist hauptsächlich auf repräsentative Funktionen beschränkt. Im Zuge verschiedener Verfassungsreformen, die bereits unter Surabischwilis Vor-Vorgänger Micheil Saakaschwili begannen, wurden die Kompetenzen des Staatsoberhaupts schrittweise auf das Parlament und den Premierminister übertragen. Als die populistische Partei „Georgischer Traum“ (GD, Georgian Dream) 2012 Saakaschwilis pro-westliche „Vereinte Nationale Bewegung“ (UNM, United National Movement) in der Regierung ablöste, begann der Prozess der Umwandlung Georgiens von einem präsidentiellen zu einem parlamentarischen Regierungssystem.

Saakaschwili durfte nach zwei regulären Amtszeiten bei der Präsidentschaftswahl 2013 nicht mehr kandidieren. Für seine Partei, die Georgien zuvor seit der friedlichen Rosenrevolution regiert hatte und mit umfassenden Reformen vor allem in der Korruptionsbekämpfung gewichtige Akzente setzen konnte, begann eine umfassende Krise, von der sich die UNM bis heute nicht erholt hat. Hätte die UNM die Parlamentswahlen 2012 gewonnen, so wäre Saakaschwili womöglich nach Ablauf seiner Amtszeit vom Amt des Präsidenten in das des Premierministers gewechselt. Doch daraus wurde nichts.

Der GD, beflügelt von einer umfassenden Wechselstimmung nach zunehmendem Verdruss mit der UNM-Regierung, nominierte den eher unbekannten Bildungsminister Giorgi Margwelaschwili als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl. Mit tatkräftiger Unterstützung durch den GD-Gründer und Milliardär Bidsina Iwanischwili siegte Margwelaschwili bereits im ersten Wahlgang haushoch. Doch Durchregieren konnte der GD damit nicht, und schon ein halbes Jahr nach der Wahl äußerte sich Iwanischwili „enttäuscht“ über den Präsidenten. Margwelaschwili war in der Tat unabhängig in seiner Amtsführung und setzte sein Vetorecht regelmäßig ein. Bei den Parlamentswahlen 2016 erreichte der GD bedingt durch das damals geltende Wahlrecht mit 48 % der Stimmen eine Dreiviertelmehrheit im Parlament, mit der die Partei nach eigenen Vorstellungen die Verfassung ändern und Vetos des Präsidenten überstimmen konnte. Der GD beschnitt die Vollmachten des Präsidenten weiter: Sämtliche exekutive Kompetenzen würden ab der nächsten Präsidentschaftswahl bei der Regierung liegen, Vetos könnten von dort an mit einer einfachen Mehrheit vom Parlament überstimmt werden, die Außenpolitik des Präsidenten müsste von der Regierung abgesegnet werden. Obendrein schaffte der GD die Direktwahl des Präsidenten ab. Das nun lediglich repräsentative Funktionen ausübende Staatsoberhaupt wird ab 2024 von einem an der deutschen Bundesversammlung orientierten Gremium gewählt. Margwelaschwili gab entnervt auf und verzichtete 2018 auf eine Wiederwahl.

Hier kommt nun Salome Surabischwili ins Spiel. Die in Frankreich geborene und aufgewachsene Diplomatin aus einer Exilgeorgier-Familie war unter Jacques Chirac Botschafterin in Georgien, bis Micheil Saakaschwili ein Coup gelang: Er verlieh Surabischwili die georgische Staatsbürgerschaft und holte sie als „europäische Außenministerin“ an seinen Kabinettstisch. Sie überwarf sich mit anderen Weggefährten Saakaschwilis, allen voran der Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse und wurde nach nur eineinhalb Jahren entlassen. Die Etablierung einer eigenen Partei, die sich als konstruktive Opposition zu Saakaschwilis UNM zu positionieren versuchte, scheiterte. Surabischwili rechnete zunehmend intensiver mit Saakaschwili ab und führte sogar mit ihrer einstigen Intimfeindin Burschanadse, die sich ebenfalls mit dem Präsidenten überworfen hatte, Proteste gegen ihn an. Ihre kontroverse Behauptung, Saakaschwili habe den Krieg gegen Russland angefangen, haben ihr viele Georgier bis heute nicht verziehen. Für dieses Statement entschuldigte sie sich später.

2013 versuchte sie schon einmal, Präsidentin zu werden, wurde allerdings wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft nicht zur Wahl zugelassen. 2016 kehrte sie auf die politische Bühne zurück und gewann mit Unterstützung des GD als unabhängige Kandidatin einen Sitz im Parlament. Sie stimmte auch für die Verfassungsänderungen, die die Macht des Staatsoberhaupts auf ein Minimum zurückstutzten. Eigens für ihre Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl änderte der GD das Wahlgesetz und erlaubte ihr, als doppelte Staatsbürgerin bei der Wahl anzutreten, sofern sie früh genug den Prozess zur Aufgabe ihres französischen Passes einleiten würde, was sie auch tat.

official-publication

Bild Wahlkampagne 2018

© Offizielle Publikation

Ihre Wahl wurde zu einer Herausforderung: Unter anderem bedingt durch ihre umstrittenen Aussagen von 2008 entging der GD nur haarscharf einer empfindlichen Niederlage – Surabischwili holte im ersten Wahlgang nur knapp mehr Stimmen als der UNM-Kandidat. Die Opposition konnte sich ernsthafte Hoffnungen auf einen Wahlsieg in der Stichwahl machen. In einer beispiellosen Kampagne für den zweiten Wahlgang mobilisierte die Regierungspartei den öffentlichen Sektor für sie und versprach, im Falle eines Wahlsieges 600.000 Georgiern ihre finanziellen Schulden beim Staat über die Stiftung von Bidsina Iwanischwili zu begleichen. Auf den Wahlplakaten für die Stichwahl plakatierte der GD plötzlich das Konterfei Iwanischwilis und das des damaligen Parlamentspräsidenten Irakli Kobachidse. Die Rettungsaktion ging auf und Surabischwili siegte im zweiten Wahlgang mit deutlichem Abstand. Sie wurde auf legalem Wege Präsidentin, aber ihr fehlte es an Legitimität. Micheil Saakaschwili – zwischenzeitlich in der Ukraine tätig und politisch motivierte Strafverfolgungen in Georgien erwartend – rief zu Protesten gegen sie auf.

Surabischwili war in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit äußerst unpopulär, in den Umfragen nahm sie regelmäßig einen der letzten Plätze ein: Die Opposition erkannte sie ohnehin nicht als ihre Präsidentin an, und einen Teil der GD-Anhänger verprellte sie durch eine pannenreiche Amtsführung. Einmal löste sie durch unglückliche Äußerungen über die Zugehörigkeit eines georgischen Klosters eine diplomatische Krise mit Aserbaidschan aus, ein anderes Mal sorgte sie für Irritationen, als sie einen Tweet Donald Trumps, in dem er über Joe Biden herzog, über ihren Twitter-Account teilte. Vereinzelt versuchte sie, eigene Akzente zu setzen und sich als unabhängig zu präsentieren, was ihr Großteile der Opposition nicht abnahmen. Einige Stimmen sahen sie als Teil der Propagandamaschine des GD: Wenn Parteihardliner übers Ziel hinausschossen und kontroverse Aussagen tätigten, mahnte sie als Präsidentin zu mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft. Im Zweifel stellte sie sich aber auf die Seite der Regierung. Durch diese Strategie war der GD in seiner Gesamtheit weniger angreifbar.

Spätestens mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine begann der Entfremdungsprozess zwischen Präsidentin und Regierung. Während der Premierminister Irakli Gharibaschwili der Opposition und der Ukraine vorwarf, eine „zweite Front“ eröffnen zu wollen, schwang Surabischwili eher versöhnliche Töne an und stand auch im Austausch mit Wolodymyr Selenskyj. Stets verwies sie auf die Schuld Russlands und kritisierte regelmäßig die Rhetorik der Regierungspartei. In der Folge schossen ihre Umfragewerte in die Höhe. Sie ist nun die zweitbeliebteste Politikerin des Landes. Sie stellte sich dennoch nicht vollständig auf die Seite der Opposition, sondern versuchte einen unabhängigen Weg zu gehen. Als Georgien im Juni 2022 der Status als EU-Beitrittskandidat verwehrt blieb, schloss sie sich nicht den Protesten der Opposition an, sondern veranstaltete eine eigene, kleine Demonstration als Bekenntnis zu Europa.

Der Konflikt zwischen beiden Fronten verhärtete sich zusehends: Der GD verklagte sie wegen ihrer Einmischung bei der Nominierung von Botschaftern und nicht autorisierter Staatsbesuche. Diese müssen vorher von der Regierung abgesegnet werden, da die Außenpolitik der Exekutive und nicht der Präsidentin untersteht – laut der Verfassung, für deren Änderungen nach Vorstellungen des GD Surabischwili einst selbst als Parlamentarierin stimmte. So musste sie auch bei Einladungen zu politischen Gipfeln dem Premierminister den Vortritt lassen. Im Januar dieses Jahres ließ der GD die Anklage dann fallen.

Im März gingen zehntausende Georgier gegen ein vom GD geplantes Agentengesetz auf die Straße und die Präsidentin stellte sich auf die Seite der Demonstranten. Das Gesetz wurde schlussendlich gekippt. Surabischwili teilte daraufhin in ihrer jährlichen Ansprache ans Parlament kräftig gegen die Regierung aus und kritisierte den GD für sein fehlendes Bekenntnis zur EU. Im Mai verurteilte sie die von der Regierung befürwortete Wiederherstellung von Direktflügen nach Russland. Im Juni begnadigte sie den inhaftierten Journalisten Nika Gvaramia vom oppositionsnahen Sender Mtavari Arkhi. Im Juli verurteilte sie Gedankenspiele der Regierung, ein LGBT-feindliches Gesetz zu verabschieden. Im August nahm sie als einzige Vertreterin der höchsten Staatsebene an den Gedenkfeierlichkeiten an den Beginn des Kaukasuskrieg 2008 teil.

In Anbetracht der zunehmenden Irritation aus Europäischen Hauptstädten über die Regierungspolitik Georgiens beabsichtigte Surabischwili, über den Herbst hinweg in verschiedenen Ländern für den EU-Kandidatenstatus Georgiens zu werben und durch einen Besuch zum Unabhängigkeitstag auch die Beziehungen zur Ukraine zu normalisieren. Auf dem internationalen Parkett hat sie sich, anders als Gharibaschwili, eine respektierte Reputation aufgebaut. Der GD verbot ihr mit Verweis auf die außenpolitische Kompetenz der Regierung alle Besuche. Sie widersetzte sich dem aufgelegten Verbot ihrer Dienstreisen und flog am 31. August nach Berlin zu Frank-Walter Steinmeier. Am nächsten Tag traf sie EU-Ratspräsident Charles Michel.

Das war zu viel für den GD, dessen Parteivorsitzender Kobachidse – der einst noch auf den Plakaten für ihre Wahlkampagne geworben hatte – noch am selben Tag bekanntgab, dass ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin initiiert wird. Doch nicht nur die Entfremdung zwischen GD und Surabischwili hat ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die georgische Jugend steht, wie man den Reaktionen in den sozialen Netzwerken entnehmen kann, hinter „ihrer“ Präsidentin. Die jungen Georgier waren es, die im März zu zehntausenden auf die Straßen gingen, um für eine europäische Zukunft zu demonstrieren und so das Agentengesetz zu kippen. 

Für ein Impeachment sind 100 Stimmen im Parlament von Nöten. Zusammen mit seinen Verbündeten, den Europäischen Sozialisten und der Fraktion „Volksmacht“, kommt der GD auf 88 Stimmen. Die Opposition, die Surabischwili einst nicht als Präsidentin anerkannte, dürfte ihr also den Verbleib im Amt bis zur nächsten regulären Wahl 2024 retten. Bei dieser kann sich Surabischwili keinerlei Hoffnung mehr auf eine Wiederwahl machen; sie stimmte ja einst für die Abschaffung der Direktwahlen für das Präsidentenamt.

Zwar schaffte es die Regierung in der Vergangenheit, einzelne Oppositionsabgeordnete auf seine Seite zu ziehen, aber selbst diese lehnen das Amtsenthebungsverfahren ab, ebenso die UNM-Fraktion. Die liberalen Partnerparteien der FNF im georgischen Parlament – Lelo, Strategia Aghmashenebeli und Republikaner – haben ebenfalls verdeutlicht, dass sie gegen eine Amtsenthebung stimmen werden, womit der Prozess scheitern dürfte. Trotz ihrer schwierigen Vergangenheit mit der jetzigen Opposition hat sich Surabischwili also zumindest teilweise deren Respekt erworben.

Ein letztes As hat sie noch im Ärmel, um sich in deren Augen vollständig zu rehabilitieren. Ihr Vor-Vorgänger Saakaschwili sitzt derzeit durch politisch motivierte Verurteilungen eine Haftstrafe ab und ist gesundheitlich schwer angeschlagen. Sie hat das alleinige Recht, denjenigen Mann zu begnadigen, der sie einst in die georgische Politik brachte und den sie später aufs Schärfste bekämpfte. Es bleibt abzuwarten, ob Surabischwili diesen riskanten Schritt wirklich wagen wird.

 

Jan Jakob Langer ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung und Korrespondent für Georgien beim europäischen Politik- und Umfrageportal „Europe Elects“.