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Georgien am Scheideweg
Der Russisch-Georgische Krieg 2008 im Wahlkampf

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A house wall damaged by Russian cluster munitions in Gori / Eine durch russische Streumunition beschädigte Hauswand in Gori

© Alexander Moisseenko

Der Kaukasuskrieg 2008

Der Kaukasuskrieg von 2008 ist zum Wahlkampfthema in Georgien geworden, wo am 26. Oktober ein neues Parlament gewählt wird. Die Regierungspartei versucht die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auf die Partei des damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili abzuwälzen - und rechtfertigt damit ihr geplantes Verbot von Oppositionsparteien.

Seit Jahrzehnten kommen die Regionen Südossetien und Abchasien nicht zur Ruhe. In den frühen 1990er-Jahren ist es von Russland unterstützen Milizen gelungen, diese Gebiete unter ihre Herrschaft zu bringen, obwohl die internationale Staatengemeinschaft sie weiterhin als georgisches Territorium anerkennt.

In der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008, während der Amtszeit von Präsident Micheil Saakaschwili, erreicht der eingefrorene Konflikt eine neue Eskalationsstufe, welche insgesamt 850 Menschen das Leben kosten wird. Nachdem wiederholt georgische Dörfer durch ossetische Milizen beschossen worden sind, dringen georgische Truppen bis in die ossetische Hauptstadt Zchinwali vor. Doch schon am selben Tag verkündet Russland eine Großoffensive und bombardiert mehrere Städte Georgiens. Obwohl sich die russischen Truppen bis Ende August aus manchen Orten zurückziehen, bleiben 20 Prozent des Landes bis heute von Russland besetzt.

Im Januar 2021 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Russland im Verlauf des Krieges gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Unter anderem verhindere es die Rückkehr von 20.000 Georgiern, die zuvor in Südossetien gelebt hätten und deren Dörfer niedergebrannt worden seien. Im darauffolgenden Jahr gewann Georgien alle 3.300 Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Zusammenhang mit Verbrechen Russlands. Es ging dabei auch um Fälle von Tötungen georgischer Bürger in der Nachkriegsbesatzung. Im selben Jahr verhängte der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen mehrere Beamte der von Russland besetzten Region Südossetien. Ihnen werden Folter und Misshandlungen von georgischen Zivilisten vorgeworfen.

Russland stellt sich allerdings als Schutzmacht der ossetischen Bevölkerung dar, die lediglich auf die Aggression Saakaschwilis reagiert habe. Ein Narrativ, das mittlerweile zu Teilen auch von der als prorussisch geltenden Regierungspartei “Georgischer Traum” mitgetragen wird. Laut Parteivorsitzendem Irakli Gharibaschwili sei der Krieg von 2008 das schlimmste Verbrechen, das “Saakaschwili und seine kriminelle Bande” angerichtet habe, weswegen er dessen Partei für immer aus der Politik verbannen möchte.

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Ein BMP-2-Schützenpanzer der russischen Besatzungstruppen in Südossetien / A BMP-2 infantry fighting vehicle of the Russian occupation forces in South Ossetia

© Yana Amelina (Амелина Я. А.), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Der Tagliavini-Report

Eine vom Rat der Europäischen Union beauftragte Kommission unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini sollte Klarheit zu den Ursachen der Auseinandersetzungen liefern und veröffentlichte im Jahr 2009 einen Untersuchungsbericht.

Auf ebenjenen Tagliavini-Report bezieht sich auch der politische Rat der Regierungspartei “Georgischer Traum”. Sie interpretiert den Bericht ganz im Sinne Russlands und verlautbart in einer Stellungnahme, der Report komme einem “Urteil” für Saakaschwilis Partei gleich. Demnach hätten die damaligen georgischen Behörden mit dem Angriff auf Zchinwali, Russland eine Rechtsgrundlage für ihren Einmarsch in Georgien geliefert.

In der Tat hat die Untersuchungskommission festgehalten, dass der Krieg mit dem Beschuss Zchinwalis durch georgische Streitkräfte in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 begann. Diese Gewalt wird im Bericht als unverhältnismäßig kritisiert. Zugleich räumt der Tagliavini-Report allerdings ein, dass dieser Angriff „nur der Höhepunkt einer langen Periode zunehmender Spannungen, Provokationen und Zwischenfälle” gewesen sei.

Nichtsdestotrotz kommt die Partei “Georgischer Traum” zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass die Regierung Saakaschwilis “ein Dokument mit derartigen Beweisen und Schlussfolgerungen” akzeptiert habe, eindeutig beweisen würde, dass die damaligen Machthabenden “schweren Verrat an ihrem eigenen Land und Volk begangen haben”.

Dies entspricht nicht der Wahrheit, denn die georgische Regierung hat damals den Untersuchungsbericht in Teilen kritisiert. Das damalige georgische Außenministerium teilte zwar kurz nach der Publikation des Berichts mit, das Dokument würde Georgien dabei helfen, seine Position zu untermauern. Zugleich wurde allerdings die Bemerkung kritisiert, wonach Georgien unverhältnismäßige Gewalt angewendet habe: „Keine demokratische Regierung kann überleben, wenn sie es versäumt, ihre Bürger zu verteidigen, wenn fremde Kräfte in ihr Territorium eindringen. Georgien hat so gehandelt, wie es jede demokratische Nation getan hätte - eine Tatsache, die ein vernünftiger Beobachter unmöglich leugnen kann“.

Eine Spirale der Gewalt

Denn dass dem Kaukasuskrieg eine lange Vorgeschichte zugrundeliegt und dass die georgische Offensive auf Zchinwali keineswegs unprovoziert gewesen ist, das wird auch im Tagliavini-Report ausführlich beschrieben.

Demnach war das ossetische Gebiet im Sommer 2008 Schauplatz von subversiven Angriffen sowie verstärkten Schusswechseln zwischen Georgien und Südossetien, wobei auch Mörsergranaten und schweres Artilleriefeuer zum Einsatz kamen. Die Sicherheitslage verschlechterte sich Anfang August. Ein Sprengsatz verletzte am 1. August fünf georgische Polizisten. In den ersten Augusttagen kam es wiederholt zu Schusswechseln, die auch Todesopfer und Verletzte forderten.

Parallel zu dieser Eskalationsspirale wurde im Vorfeld des Krieges eine verstärkte Präsenz russischer Truppen in der Region dokumentiert. Die von Russland seit den 1990er-Jahren eingesetzten Friedenstruppen wurden im April 2008 durch zusätzliche Truppen verstärkt.

Zudem berichtet die Untersuchungskommission von der Ausbildung und Ausrüstung südossetischer Streitkräften durch russische Einheiten bis hin zu einem Zustrom von Söldnern vom russischen Territorium über den Roki-Tunnel nach Südossetien. Auch wird die Präsenz einiger russischer Streitkräfte in Südossetien beschrieben, vor dem offiziellen Zeitpunkt des russischen Eingreifens.

Micheil Saakaschwili

Während der Amtszeit von Präsident Micheil Saakaschwili brach im August 2008 der Kaukasuskrieg aus. Seit 2021 befindet sich der Oppositionspolitiker in Haft / The war broke out in August 2008 during President Mikheil Saakashvili's term in office, the opposition politician has been in prison since 2021.

© picture alliance / NurPhoto | Sergii Kharchenko

Der Krieg, der bereits Jahre zuvor begann

Im Jahr 2012 bestätigte Wladimir Putin, dass die Planungen zur Militäroperation in Georgien schon einige Jahre zurückliegen. Demnach bereitete der Generalstab der Streitkräfte einen Plan für militärische Aktionen gegen Georgien Ende 2006 vor, und der russische Präsident habe diesen 2007 genehmigt. Als Teil des Plans des russischen Verteidigungsministeriums wurden ossetische Separatistenkräfte ausgebildet und bewaffnet.

Und auch die Drohungen, die Russland im Vorfeld der Kämpfe gegen Georgien ausgesprochen hat, sprechen eher für eine im Voraus geplante Invasion Russlands, als dass Saakaschwili sich spontan zu einem Artilleriebeschuss Zchinwalis hinreißen ließ. Ziel Russlands war es, eine mögliche Westbindung Georgiens zu verhindern.

Denn obwohl der russische Außenminister Sergei Lawrow im Januar 2005 erklärte, dass Georgien das Recht habe der NATO beizutreten und man die Entscheidung des Landes respektieren würde, ändert das russische Außenministerium seine Meinung schlagartig in den darauffolgenden Jahren.

Am 11. April 2008, kurz nach dem NATO-Gipfel in Bukarest, bei dem die Mitgliedsstaaten ihre Offenheit bezüglich eines möglichen Beitritts Georgiens bekundet haben, geht der russische General Juri Balujewski zu offenen Drohungen über: "Russland wird Schritte unternehmen, die darauf abzielen, seine Interessen entlang seiner Grenzen zu sichern”. Dies würden nicht nur militärische Schritte sein, sondern auch “Schritte anderer Art".

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Das Kriegsmuseum in Ergneti, ein Dorf in der unmittelbaren Nähe zum von Russland besetzten Zchinwali / The War Museum in Ergneti, a village in the immediate vicinity of Russian-occupied Tskhinvali

© Alexander Moisseenko

Lästige Erinnerungen

Ergneti ist ein georgisches Dorf unmittelbar an der Grenze zu den besetzten Gebieten von Südossetien. Im Keller eines einst ausgebrannten Privathauses befindet sich das einzige Museum über den Kaukasuskrieg. Es sind Fotos der bombardierten Stadt Gori zu sehen, georgische Flaggen sowie Munition und Bombensplitter, die in der Umgebung gefunden worden sind.

Der Betreiber des Museums hat auch den Sommer 2008 hier verbracht und regelmäßig die Schüsse gehört, die in den Tagen vor dem 8. August aus Zchinwali fielen. Ungeachtet der vorausgegangenen ossetischen Angriffe im Vorfeld des Kriegs, hält die Regierungspartei “Georgischer Traum” weiterhin an der Sichtweise fest, dass es Saakaschwilis "abenteuerliche Handlungen” gewesen seien, die diesen Konflikt losgetreten haben. Manche Politiker sind offenbar dazu bereit, die Erinnerung an die Vorgeschichte dieses Krieges zugunsten der guten Beziehungen zu Russland aufzuopfern. Die Bewohner von Ergneti sind es nicht.

 

Alexander Moisseenko studiert als Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung Internationale Beziehungen an der Universität Warschau. Er hat einen Bachelorabschluss in Politik und Gesellschaft.