Georgien
Schicksalswahlen in Georgien: Ein Ende des Albtraums?
Georgien steht am 26. Oktober vor einer Richtungsentscheidung. Die Regierungspartei Georgischer Traum (GD) hat durch ihren zunehmend autoritären Kurs einen Teil ihrer Anhänger verprellt und das Land vom Westen isoliert. Der EU-Beitrittsprozess liegt auf Eis, obwohl die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit pro-europäisch denkt. Wie will sich der GD trotz alledem an der Macht halten?
Vor einem halben Jahr noch sah es so aus, als stünde die Regierungspartei der GD vor einer vierten Amtszeit. Trotz wachsender sozialer Probleme und zunehmender Emigration konnte sich die Opposition nicht profilieren. Das Momentum drehte sich im April, als der GD gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ein Gesetz zur Registrierung sogenannter „ausländischer Agenten“ nach russischem Vorbild durch das Parlament drückte. Die Regierung ignorierte die Massenproteste gegen das Agentengesetz, das den von den Georgiern – insbesondere der Jugend – langersehnten Traum einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union zerstören würde, nur kurze Zeit nach Erlangen des EU-Kandidatenstatus.
Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Die Vereinigten Staaten verabschiedeten Sanktionen gegen Einzelpersonen. Die EU fror den Beitrittsprozess vorläufig ein und verkündete erst kürzlich, dass sie sämtliche Kommunikation mit der Regierung kappt. Medienberichten zufolge steht vonseiten Brüssels auch ein Ende der Visafreiheit für Georgier zur Debatte. Ungeachtet dessen verspricht der GD seinen Wählern weiterhin einen EU-Beitritt bis zum Jahr 2030 – alles andere wäre in einem Land mit mehr als 80 Prozent Zustimmung zu Europa auch elektoraler Suizid. Allerdings stellt der GD seine eigenen Bedingungen: Einen EU-Beitritt solle es nur unter Wahrung von „Würde und Tradition“ geben, ganz nach ungarischem Vorbild. Die Achtung von Minderheiten passt dabei nicht zu den Vorstellungen des GD, wie ein kürzlich im Eilprozess verabschiedetes Anti-LGBT-Gesetz zeigt.
Der bisherige Wahlkampf verlief für den GD nicht reibungslos. Die Regierung erklärte im August, sie wolle die Orthodoxie zur Staatsreligion erklären und der hochangesehenen Georgisch-orthodoxen Kirche einen besonderen institutionellen Status verleihen, welchen sie ohnehin schon besitzt. Vertreter der Kirche bezeichneten die Vorschläge des GD als „inakzeptable, einseitige Unterordnung der Kirche [gegenüber dem Staat]“, sodass die Regierung schnell zurückruderte. Als Bidsina Iwanischwili in einer Rede behauptete, Ex-Präsident Saakaschwili habe den Krieg gegen Russland 2008 angefangen, verärgerte er selbst einen Teil seiner Anhänger mit dieser Aussage. Die Regierung hatte sich offenbar erhofft, durch den dezidiert anti-westlichen Kurs die von Russland besetzten Gebiete Abchasien und Zchinwali (Südossetien) wieder unter georgische Kontrolle zu bringen, etwa in Form einer Konföderation – doch von russischer Seite wurden diese Signale ignoriert. Erst Wochen später nahm der GD Abstand von diesen Gedankenspielen.
Angesichts dieser Patzer versucht die Regierung, die eigene Klientel mit Wahlgeschenken an die Urne zu bringen. Georgiens politische Spaltung verläuft grob entlang eines Stadt-Land-Gefälles. Auf dem Land hat die Regierung traditionell ihren höchsten Zuspruch: Sie verschafft den unterentwickelten Regionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und verspricht eine Renovierung der in die Jahre gekommenen Infrastruktur. Auf dem Land kann sie dafür mit großem Zuspruch und starker Wahlbeteiligung rechnen. Dabei scheint es ganz egal zu sein, wer an der Macht ist: 2012 noch war die ländliche Region Samzche-Javacheti die stärkste Hochburg der damals regierenden UNM, acht Jahre später holte der nun amtierende GD dort sein bestes Ergebnis. Im Gegenzug schneidet die Opposition in den großen Städten, allen voran der Hauptstadt Tiflis, am besten ab. Gerade in Tiflis ist der Verdruss über die Regierenden verbreitet und äußert sich regelmäßig in Form von Demonstrationen, wie etwa gegen das Agentengesetz.
Es überrascht also nicht, dass nicht mal vier Wochen vor der Wahl eine neue Autobahn im ländlichen Kachetien eröffnet wurde und sich GD-Vertreter bei der Eröffnung neuer Sportzentren und Kindergärten zeigen.
Rund ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung Georgiens ist im öffentlichen Dienst angestellt – und wird ganz auf GD-Linie gebracht. Regierungskritische Angestellte an Schulen wurden aus ihren Positionen entfernt und durch Parteigenossen ersetzt. Der Ilia-Universität in Tiflis, die sich öffentlich gegen das Agentengesetz positionierte, wurde die Lehrerlaubnis nur vorübergehend erteilt. Wer also beim Staat arbeitet, wird sich ob dieses Drucks genau überlegen, wem er seine Stimme geben wird.
Gleichzeitig versucht der GD, die Opposition durch ein Klima der Einschüchterung gezielt zu demobilisieren. Wahlwerbung der Opposition wird von regierungsnahen Sendern nicht übertragen. Im Vorfeld des Wahlkampfs kam es mehrfach zu Übergriffen auf Oppositionspolitiker und NGO-Aktivisten durch Schlägertrupps. GD-Premierminister Irakli Kobachidse spricht siegessicher regelmäßig davon, dass seine Partei eine verfassungsändernde Mehrheit erreichen werde, mit der er dann die pro-westlichen, „kriminellen“ Oppositionsparteien verböte. Diese stünden nämlich unter Einfluss einer globalen Verschwörung, die Georgien wieder in den Krieg führen wolle. Der Opposition werde nach den Wahlen vor Gericht der Prozess gemacht, denn sie sei für ihre Rolle im Krieg von 2008 nie zur Rechenschaft gezogen worden.
Nicht nur durch physische und verbale Einschüchterung, sondern auch durch formelle Hürden wird der Opposition der Wahlkampf schwergemacht. Zu Beginn der Legislaturperiode versprach der GD noch, die Sperrklausel von fünf Prozent auf ein niedrigeres Level herabzusetzen. Dies geschah jedoch nie. Ein Verbot von Mehrparteienallianzen sollte es der fragmentierten Opposition erschweren, gemeinsame Listen zu bilden, auch wenn dieses umgangen werden konnte. Besonders hart trifft es die etwa 700.000 Wahlberechtigte umfassende georgische Diaspora: Weltweit wurden nur etwa 70 Wahllokale eröffnet, obgleich das Wahlgesetz vorschreibt, dass schon 50 Wähler die Eröffnung eines Wahllokals im Ausland erforderlich machten. Es gibt Berichte, wonach Angehörige der Diaspora ohne Angabe von Gründen aus den Wählerlisten ihrer Konsulate gestrichen wurden. So werden viele pro-westlich eingestellte georgische Staatsbürger außerhalb des Landes ihres Stimmrechts beraubt.
Die von der Regierung durchgesetzte Umstellung auf einen elektronischen Auszählungsmodus birgt zudem einige Risiken. Bei vorherigen Pilotversuchen des neuen Auszählungssystems wurden unter anderem Zweifel an der Wahrung des Wahlgeheimnisses als Desinformation gesät, was dazu genutzt werden könnte, Wähler unter Druck zu setzten. Ob unter all den genannten Bedingungen von einer einem freien und fairen Wahlprozess die Rede sein kann, ist fraglich.
Trotz aller Hürden kann sich die einst stark fragmentierte Opposition Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen, wenngleich dieser kein Selbstläufer wird. Aus elf Gruppierungen, von denen nur eine in allen Umfragen sicher über der Fünf-Prozent-Hürde gesehen wurde, sind vier größere Blocks hervorgegangen. In drei dieser Allianzen sind auch liberale Parteien vertreten.
Die pro-westliche Vereinte Nationale Bewegung (United National Movement, UNM) um den inhaftierten Ex-Präsidenten Saakaschwili durchlebte in den vergangenen Jahren heftige interne Krisen, hat sich aber seit dem Rücktritt des letzten kontroversen Parteichefs konsolidiert. Sie schloss sich mit zwei ihrer Abspaltungen, unter ihnen eine Mitgliedspartei der ALDE, zur Plattform „Ertianoba“ (Einheit) zusammen. Saakaschwili hat eine konstante Anhängerschaft von etwa 20 Prozent, ist aber aufgrund seiner zunehmend autoritären Politik in seiner zweiten Amtszeit in Teilen der Bevölkerung verhasst. Im Wahlkampf setzt Ertianoba auf klassische Positionen Saakaschwilis: ein Bekenntnis zum Westen, weniger Bürokratie, mehr Marktwirtschaft und eine schlankere Staatsstruktur. Gleichzeitig machte das Bündnis eine Erhöhung der Renten zu einem zentralen Wahlkampfthema. Mit diesem Kurs will Ertianoba gerade in den ländlichen Regionen punkten, wo die UNM 12 Jahre nach dem letzten Machtwechsel noch über eine recht intakte Parteiinfrastruktur verfügt.
Die zweite große Allianz ist die liberale „Koalition für den Wandel“ (KW), deren Führungskräfte einst alle in der UNM mitwirkten, sich aber von den Altlasten der Partei und Saakaschwilis Dominanz zu emanzipieren versuchen. Hier finden sich auch zwei ALDE-Mitglieder wieder. Die KW will durch ein massives Reform- und Privatisierungsprogramm den Staat entschlacken und die Wirtschaft entfesseln, um so den Beitritt zur Europäischen Union zu ermöglichen. Gerade bei der jüngeren Wählerschaft, besonders in Tiflis, scheint diese Botschaft gut anzukommen.
Um Wähler, die weder dem GD noch der UNM viel abgewinnen können, wirbt das breite Bündnis „Starkes Georgien“ (SG), das neben Liberalen auch Sozialdemokraten, Pro-Europäer und Anti-Korruptions-Aktivisten umfasst. SG fordert Erhöhungen von Mindestlohn und Renten und will durch neue Infrastrukturprojekte die Wirtschaft ankurbeln. Alle drei Allianzen präsentierten sich als Bollwerk gegen russischen Einfluss.
Ehemalige GD-Anhänger und Unentschlossene will allen voran die Partei „Für Georgien“ (FG) von Ex-Premier Giorgi Gacharia ansprechen. Er holte für den GD einst den dritten Wahlsieg in Folge, trat aber nach der Verhaftung des damaligen UNM-Vorsitzenden zurück und aus dem GD aus.
In den letzten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Edison Research lagen alle vier Bündnisse deutlich über fünf Prozent und zusammengenommen vor dem GD, wobei es nach wie vor noch viele Unentschlossene gibt. Um eine Regierungsbildung zu vereinfachen, stellte Präsidentin Surabischwili vor einigen Monaten mit der „Charter für Georgien“ ein gemeinsames Rahmenabkommen vor, das inzwischen von allen relevanten Oppositionskräften unterzeichnet wurde. Die teils sehr unterschiedlichen Oppositionsparteien eint ihre pro-westliche Haltung. Der Fokus der Charter liegt folglich vor allem auf den Reformbedingungen der EU, um Georgien wieder auf einen demokratischen Pfad in Richtung Europa zu bringen.
In den letzten heißen Wahlkampftagen kommt es auf die Mobilisierung der vielen Unentschlossenen und Nichtwähler an, die sich enttäuscht von der Politik abgewandt haben. Gelingt es der Opposition nicht, sie auf ihre Seite zu ziehen, so dürfte Georgien endgültig vom demokratischen Musterland im Kaukasus in Richtung Autoritarismus abdriften. Die Regierung wird wohl alles daran setzen, um einen Machtwechsel zu verhindern, selbst wenn die Opposition eine Mehrheit erreicht. Die georgische Verfassung schreibt nämlich vor, dass die stimmenstärkste Partei als erstes Anspruch auf eine Regierungsbildung hat. Die Opposition muss also in jedem Fall geschlossen handeln, um Abweichlern und Stimmenkauf vorzubeugen und so eine weitere Amtszeit des GD zu verhindern. Noch spannender als der Wahlkampf wird also die Zeit danach.
Jan Jakob Langer ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung und Korrespondent für Georgien beim europäischen Politik- und Umfrageportal „Europe Elects“.