Belarus vor der „Präsidentschaftswahl"
Isolation, Unterdrückung und ein Schimmer Hoffnung
Am 26. Januar finden in Belarus „Präsidentschaftswahlen“ statt. Der belarusische Machthaber Aljaksandr Lukaschenka lässt sich zum siebten Mal zum Präsidenten küren – dank totaler Kontrolle und Unterdrückung derer, die sich Veränderung für Belarus wünschen. Im Schatten des russischen Angriffskrieges ist Belarus so isoliert von der Außenwelt wie noch nie. Die Aussichten auf ein Ende von Unterdrückung und Isolation schwinden, auch wenn die Hoffnung auf Freilassung der politischen Gefangenen wieder aufflammt. Eine Analyse der Entwicklungen in Belarus.
Im August 2020 gingen Hunderttausende Menschen in Belarus auf die Straße, um gegen die gefälschte Wiederwahl von Aljaksandr Lukaschenka zu protestieren. Es herrschte große Hoffnung und der Eindruck einer echten Chance auf Veränderung. Der belarusische Präsident, der sich seit 1994 durch umstrittene Referenden und manipulierte Wahlen an der Macht hält, beanspruchte den Wahlsieg mit angeblich 80 % der Stimmen. Unabhängige Umfragen deuteten jedoch darauf hin, dass seine Hauptgegnerin, Sviatlana Tsikhanouskaya, die eigentliche Wahlsiegerin war. Die Protestwelle wurde vom Sicherheitsapparat mit massiver Gewalt unterdrückt: Tausende Menschen wurden verhaftet und gefoltert, Menschenrechtler zählen mindestens 15 Todesfälle im Zusammenhang mit den Protesten.
Es folgte eine beispiellose Unterdrückungswelle Andersdenkender. Zahlreiche unabhängige Medien wurden geschlossen, zivilgesellschaftliche Organisationen verboten, und politische Gegner entweder ins Exil getrieben oder inhaftiert. Sviatlana Tsikhanouskaya und ihr Schattenkabinett befinden sich im Ausland. Einige ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter, darunter auch ihr Ehemann Sergei Tikhanovsky, werden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Kontakt zur Außenwelt als Geiseln des Regimes festgehalten. Die unabhängige Menschenrechtsorganisation Viasna, deren Gründer und Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski ebenfalls in Belarus inhaftiert ist, zählt derzeit 1.254 politische Gefangene im Land. Etwa 350.000 Belarusinnen und Belarusen haben aus Angst vor Verfolgung ihre Heimat verlassen.
Sviatlana Tsikhanouskaya: „Tyrannei ist wie Krebs“
Seit Jahren kämpft die belarusische Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya aus dem Exil in Litauen für ein freies Belarus und forderte nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen zu Neuwahlen auf. In der 17. Berliner Rede zur Freiheit hielt sie ein vehementes Plädoyer für Freiheit und Menschenrechte und appellierte an die internationale Gemeinschaft zur Solidarität mit der belarusischen Opposition. Für Tsikhanouskaya ist klar: Der Kampf für die Freiheit ist ein globaler Kampf, der nicht alleine gewonnen werden kann.
Konsolidierung des Regimes im Schatten des Ukraine-Krieges
Die Europäische Union reagierte auf das Vorgehen des Regimes gegen die Protestierenden mit Sanktionen, wenn auch mit Verzögerung. Vor der Einführung handelsbezogener Sanktionen war die EU der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, auf den ein Fünftel des gesamten Warenhandels des Landes entfiel. Die Sanktionen trieben Belarus jedoch noch tiefer in die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland: Derzeit entfällt rund 70 % des gesamten belarusischen Handels auf den Warenaustausch mit Russland. Die politische Abhängigkeit von Russland erreichte ihren Höhepunkt mit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine am 24. Februar 2022.
Lukaschenka, dessen Regime unter anderem dank russischer Unterstützung so lange überleben konnte, erlaubte Wladimir Putin die Nutzung des belarusischen Territoriums für den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Offensive der russischen Streitkräfte auf die ukrainische Hauptstadt Kyjiw ging von Belarus aus und war nur mit Lukaschenkas Zustimmung möglich. Die Beteiligung des belarusischen Regimes an diesem Krieg trieb Lukaschenka weiter in die Isolation: Der Westen verschärfte seine Sanktionen, und die Ukraine stellte ihre Handelsbeziehungen zu Belarus ein. Belarus wird in der Ukraine nun als Co-Aggressor wahrgenommen, und gute nachbarschaftliche Beziehungen wie früher sind auf absehbare Zeit nicht mehr möglich. Die Grenze ist von beiden Seiten stark gesichert.
Lukaschenka nutzt den Krieg in der Ukraine, um sein Narrativ zu stärken: Nur er könne die Sicherheit und Stabilität von Belarus garantieren. Ohne ihn, so behauptet er, wäre Belarus direkt in den Krieg verwickelt worden. Dabei spielt er mit den Ängsten und dem historischen Gedächtnis der Belarusen. Die Ablehnung des Krieges und der Wunsch nach Frieden in der belarusischen Gesellschaft sind aufgrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg sehr ausgeprägt.
Im April 2023 wurden russische taktische Atomwaffen in Belarus stationiert – obwohl die Mehrheit der Belarusen diesen Schritt ablehnte. Lukaschenka bemühte sich, den Eindruck zu erwecken, er habe ein Mitspracherecht über den Einsatz dieser Waffen. Der Sprecher des Kremls widersprach dieser Darstellung jedoch eindeutig. Spätestens da wurde deutlich, dass die Souveränität von Belarus in Frage steht. Auch Annexionspläne des Kremls wurden öffentlich, getarnt als „weitgehende Integration innerhalb des russisch-belarusischen Unionstaates“. Kritiker des Regimes werfen Lukaschenka vor, durch seinen Machthunger die Souveränität seines Landes verspielt zu haben. Die Entscheidungshoheit über Belarus liege inzwischen in Moskau. Dennoch inszeniert sich Lukaschenka weiterhin als starker, unabhängiger Herrscher, der den „friedlichen Himmel über Belarus“ garantieren würde – dabei fliegen regelmäßig russische Kampfdrohnen und Kampfflugzeuge über Belarus, die auch die Sicherheit der Menschen in Belarus gefährden.
Die „Parlamentswahlen“ im Februar 2024 demonstrierten die endgültige Konsolidierung des Regimes und die Loyalität der Eliten und Sicherheitskräfte zu Lukaschenka. Oppositionskandidaten waren nicht zugelassen, und die Wahl fand in einer Atmosphäre totaler Überwachung und Kontrolle statt. Ziel dieser Wahl war es offenbar, die Lage vor der Präsidentschaftswahl zu sondieren und mögliche Schwachstellen des Regimes bis zum Urnengang im Januar 2025 zu beseitigen.
Ein Wahltag ohne Überraschungen
Über seine „Wiederwahl“ und eine siebte Amtszeit muss sich der belarusische Machthaber keine Sorgen machen – der Ausgang der inszenierten Wahl gilt als gesichert. Es wurden ausschließlich verlässliche Schein- Gegenkandidaten und -kandidatinnen zugelassen, die anstatt für sich selbst Wahlkampf zu machen, in ihren Auftritten Wahlwerbung für Lukaschenka betreiben. Lukaschenka selbst nimmt weder an Debatten noch an Kampagnenveranstaltungen teil, was an Wladimir Putins Umgang mit Wahlen erinnert. Die echte Opposition ist entweder inhaftiert oder im Exil. Überraschungen rund um den Wahltag oder größere Proteste sind nicht zu erwarten – die Bevölkerung ist eingeschüchtert, und der Sicherheitsapparat greift bereits bei minimalem Verdacht auf „extremistische“ Tätigkeiten ein. Weder die OSZE-Wahlbeobachtungsmission noch andere unabhängige Beobachter werden den Wahlgang überwachen können. Vertreter der belarusischen Demokratiebewegung rufen die Wähler dazu auf, auf den Wahlzetteln die Option „gegen alle“ anzukreuzen.
Dennoch ist diese Wahl aus der Perspektive der Rhetorik von Aljaksandr Lukaschenka nicht uninteressant. In seinem erst vor wenigen Tagen in den belarusischen Zeitungen veröffentlichten „Wahlprogramm“ betonte er, dass er niemals eine direkte Beteiligung von Belarus am Krieg in der Ukraine zulassen würde, da dies das Ende von Belarus bedeuten würde. Die Souveränität des Landes sei ihm ein wichtiges Anliegen, ebenso wie die Einheit des Landes. Zudem kündigte er an, auf Dialog mit der Opposition statt auf Konfrontation setzen zu wollen. Die belarusische Demokratiebewegung reagierte jedoch mit großer Skepsis auf diese Ankündigungen. Ein echtes Signal für Dialogbereitschaft wäre die Freilassung der politischen Gefangenen – aber selbst zu diesem Thema herrscht innerhalb der Opposition Uneinigkeit.
Freilassungen politischer Gefangener als taktisches Manöver des Regimes?
Neben der Wahlfälschung gibt es in Belarus eine weitere traurige „Tradition“ im Zusammenhang mit Wahlen: Im Vorfeld aller bisherigen Wahlen hat Lukaschenka die damals inhaftierten politischen Gefangenen begnadigt und freigelassen. Doch es war von Anfang an klar, dass diese Tradition diesmal ausgesetzt wird – es erscheint äußerst unwahrscheinlich, dass der belarusische Machthaber seine schärfsten Kritiker und deren Unterstützer freilässt und so eine neue Destabilisierung seines Regimes riskiert. Entsprechend groß war die Enttäuschung vieler Belarusen, als im Zuge des Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland kein einziger politischer Gefangener aus Belarus – außer dem Deutschen Rico Krieger – dabei war.
Trotzdem kam es 2024 zu mehreren Freilassungen politischer Gefangener. Allerdings wurden deren Plätze in den Gefängnissen schnell wieder neu belegt, da die Behörden ihre „anti-extremistischen“ Verhaftungswellen fortsetzten. Ein Teil der belarusischen Demokratiebewegung sieht in den Freilassungen dennoch eine Chance für weitere Entwicklungen. Die ersten Begnadigungen könnten aus ihrer Sicht ein Signal sein, dass Lukaschenka verhandlungsbereit ist. Daher sei es an der Zeit, den Dialog zu suchen und als Gegenleistung für weitere Freilassungen die Sanktionen auszusetzen. Zu den prominenten Befürwortern eines solchen Dialogs gehören Valery Kavaleuski, der ehemalige Schatten-Außenminister des Kabinetts von Tsikhanouskaya, sowie Tatsiana Khomich, die Schwester der inhaftierten Maria Kalesnikava. Tatsiana Khomich vertritt die neu gegründete Vereinigung der Angehörigen politischer Gefangener, die ebenfalls den Dialog mit Lukaschenka als einzige reale Chance für die Freilassung ihrer Angehörigen sieht.
Die Vertreter der Demokratiebewegung rund um Sviatlana Tsikhanouskaya plädieren hingegen für eine Verschärfung der Sanktionen gegen das Regime und lehnen Verhandlungen mit einem Präsidenten, der international nicht anerkannt ist, strikt ab. Ihrer Ansicht nach können nur noch stärkerer wirtschaftlicher und politischer Druck die Situation in Belarus nachhaltig verändern.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer für politische Gefangene
In den letzten Wochen vor der Wahl zeigte das Regime Fotos prominenter politischer Gefangener, die seit über 600 Tagen unter Incommunicado-Bedingungen inhaftiert waren, darunter Viktar Babaryka und Maria Kalesnikava, die endlich ihren Vater treffen durfte. Die Aufnahmen lösten große Erleichterung innerhalb der Demokratiebewegung aus – sie leben! Doch zugleich stellte sich die Frage: Was bezweckt das Regime mit dieser Taktik? Wird das Regime kurz vor der Wahl auch Sergei Tikhanovsky zeigen, über dessen Zustand seit fast zwei Jahren nichts bekannt ist? Oder setzt Lukaschenka überraschenderweise seine Tradition fort und begnadigt politische Gefangene, um sich als barmherziger und gesprächsbereiter „Vater der Nation“ zu inszenieren? Dies erscheint zwar unwahrscheinlich, doch ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt.
Die belarusische Demokratiebewegung und Europa stehen vor der Herausforderung, die Signale des Regimes richtig zu deuten und eine langfristige Strategie im Umgang mit Lukaschenka für die nächsten fünf Jahre zu entwickeln. Die Hoffnung, dass der Diktator plötzlich verschwindet – sei es durch Tod oder eine freiwillige oder unfreiwillige Abdankung – ist derzeit unrealistisch. Ebenso ist es unfair gegenüber den 1.254 politischen Gefangenen in Belarus, einfach abzuwarten, bis sich die Situation durch Sanktionen oder ein geschwächtes Russland nach dem Krieg in der Ukraine von selbst verbessert. Lukaschenka genießt weiterhin die Unterstützung seines loyalen Machtapparats und eines großen Teils der belarusischen Bevölkerung. Es ist an der Zeit, konkrete Wege zu finden, um die Menschen zu befreien, deren einziges „Vergehen“ der Kampf für Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit in Belarus ist.