Tag der Befreiung
8. Mai 1945: Ein Gespenst geht um in Europa
Die Deutschen mussten von Adolf Hitler und dem NS-Regime befreit werden. Sie schafften es trotz einzelner Widerstandsgruppen nicht aus eigener Kraft, dem mörderischen Regime, dem menschenverachtenden Rassismus und Antisemitismus ein Ende zu bereiten. Die Unterstützung für die Nationalsozialisten in der breiten Bevölkerung war bis zum Schluss einfach zu groß.
Die völkische Ideologie, mit der die Nationalsozialisten die Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer ethnischen Abstammung, ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer körperlichen Beeinträchtigung propagierten, wurde mit Gewalt, Skrupellosigkeit, Erniedrigung und Demütigung durchgesetzt. Sie führte zu den schlimmsten Menschheitsverbrechen der letzten Jahrhunderte und Deutschland in den moralischen Abgrund. Die Werte, die für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in pluralen und offenen Gesellschaften unverzichtbar sind, wurden zersetzt: Gegenseitige Achtung und Respekt, den Anderen um des Andersseins schätzen und verteidigen, die Würde als das höchste Gut und moralischen Anspruch an das eigene Handeln anzuerkennen. Diese Werte lagen in Schutt und Asche.
79 Jahre später lebt die Erinnerung an diesen Tag der Befreiung in Teilen der Bevölkerung weiter. Die verbliebenen Zeitzeugen erinnern uns mit ihren Berichten aus der Zeit der Schreckensherrschaft, der täglichen Brutalität und ihrer Angst vor Verfolgung und Ermordung daran. Doch es werden auch ganz andere Stimmen laut. Diese Stimmen predigen dieselbe völkische Ideologie, die damals zu Entmenschlichung und Verderben geführt hat. Es wird ein „Deutschtum“ über alles gestellt – andere Menschen haben darin keinen Platz. Sie sollen ausgegrenzt werden. Es sind die Rechtspopulisten bis hin zu den Rechtsextremen, die aus dem Erinnern nichts gelernt haben. Die deutsche Nation soll es richten, Europa wird bekämpft, Andersdenkende und Andersaussehende verachtet und Remigration gefordert. Und dafür nimmt man die Unterstützung von Diktatoren, die im Westen das satanische Böse sehen, gern an.
„Ein Gespenst geht um in Europa“ – an dieses geflügelte Wort, mit dem Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest einleiteten, wird man angesichts der politischen Entwicklungen in Europa erinnert. Es ist das Gespenst des aggressiven Rechtspopulismus, das in fast allen europäischen Ländern, im Europaparlament und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sein Unwesen treibt. In Organisationen, die als Antwort auf die nationalsozialistischen Verbrechen gegründet wurden und sich die Verteidigung der Menschenrechte zur Aufgabe gemacht haben. Was lange selbstverständlich schien, ist nicht mehr selbstverständlich. Geschmacklosigkeiten, Regelverstöße, Lügen, faktenfreie Behauptungen, Verschwörungserzählungen, Diffamierung der Andersdenkenden, Beleidigungen und Hassparolen sind heute politischer Alltag. Den rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen ist das Bestreben gemeinsam, ein autokratisches Herrschaftssystem zu etablieren, um mit dessen Hilfe einen ethnonationalistischen Staat, eine, wie Victor Orbán sagt, „illiberale Demokratie“ zu errichten.
Mit der anmaßenden Behauptung, dass nur sie die wahren Demokraten, die Vollstrecker des allgemeinen Volkswillens seien, versuchen diese Parteien all jene Elemente des Rechtsstaats außer Kraft zu setzen, die die demokratische Grundordnung in eine freiheitliche demokratische Grundordnung verwandeln und die Demokratie daran hindern, zu einer Despotie der Mehrheit zu entarten.
Das alles verheißt für den europäischen Kontinent und vor allem für das Projekt des vereinigten Europas nichts Gutes. Mit den liberalen Prinzipien und Methoden der Organisation einer Gesellschaft, ja, mit dem liberalen Verständnis von Gesellschaft überhaupt, soll gebrochen werden. Wir sind Zeitzeugen massiver Angriffe auf die Legitimität und die Rechtsstaatlichkeit der demokratischen Regierungssysteme innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Für mich ist das eine Verantwortung für die Freiheit, für die freiheitliche Demokratie, der wir uns mit allem Nachdruck und in aller Konsequenz stellen müssen. Ich sehe die Gefahr, dass wir sonst als Generation der Versager in die Geschichte eingehen werden.
Die deutsche Schreckensherrschaft auf dem europäischen Kontinent endete endlich am 8. Mai 1945. Es waren keine Terroristen, die über die Deutschen gekommen sind, wie eine biblische Plage. Mord und Krieg folgen keinem Naturgesetz. In den Worten Walter Scheels: Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.