Türkei
Die neue Opposition in der Türkei
Mit Verspätung ist in der Türkei das Oppositionsbündnis, auch „Bündnis der Nation“ genannt, nach den gescheiterten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr zerfallen: Auf den Parteitagen der großen Oppositionsparteien kündigte İYİ-Partei-Chefin Akşener einen von den anderen Parteien unabhängigen Kurs an, in der CHP erweckt ein überraschender Führungswechsel Hoffnungen auf eine politische Neuausrichtung. Wie erfolgreich kann die Zusammenarbeit der Opposition jetzt sein?
Die neue Opposition in der Türkei: Bündnis der Nation im Wandel
An die Wahlen in diesem Jahr hatte die Opposition keine geringeren Erwartungen als die Rückkehr zur Demokratie. Der sogenannte Sechser-Tisch als gemeinsame politische Plattform der Oppositionsparteien kündigte eine Ära von mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht an, die jedoch nicht umgesetzt werden konnte; die Wählerschaft wollte es anders.
Nach der Wahlpleite hielten die Parteien, wie vom Parteiengesetz vorgeschrieben, ihre Parteitage ab: Die İYİ-Partei bereits im Juni, die CHP erst jüngst, in der ersten Novemberwoche aus. Während Meral Akşener, Vorsitzende der İYİ-Partei, erneut in ihrem Amt als Parteivorsitzende bestätigt wurde, kam es beim Parteitag der CHP zu einem überraschenden Führungswechsel: Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der CHP und gescheiterter Präsidentschaftskandidat der Opposition 2023, wurde von Parteikollege Özgür Özel abgelöst.
İYİ-Partei: Ungenutztes Potenzial und ein unabhängiger Kurs
Die İYİ-Partei trat 2017 mit einem Gründungskader von rund 200 Personen in den politischen Wettbewerb ein. In den sechs Jahren ihres Bestehens traten zahlreichen Parteimitglieder zurück, und neben dem Austritt Ümit Özdağs, der darauf die nationalistische Zafer-Partei gründete, gab es weitere interne Streitigkeiten während des Wahlprozesses 2023.
Während der Koalitionsgespräche am Sechsertisch zur Festlegung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten des Bündnisses der Nation, angeführt von Kemal Kılıçdaroğlu, eskalierten die Streitigkeiten, und es bildete sich Widerstand gegen die Führung. Nach den Wahlen am 14. Mai, bei denen das Oppositions-Bündnis der Volksallianz unterlag, und nach der Wiederwahl Erdoğans zum Präsidenten am 28. Mai häufte sich Kritik an den Oppositionsparteien, und es kam vermehrt zu Parteiaustritten.
Akşener hat seit der Wahl zu diesen Debatten geschwiegen und innerparteiliche Treffen abgehalten. In ihrer energischen Rede auf dem Parteitag erklärte Akşener: "Heute werden wir abrechnen, ich werde Rechenschaft ablegen und andere zur Rechenschaft ziehen." Sie betonte weiterhin: "Verwöhntes Verhalten, Unverschämtheit und Respektlosigkeit sind in dieser Partei vorbei, jeder wird seinen Platz kennen."
Akşener berichtete, dass Parteifunktionäre bei Diskussionen über Kandidatenlisten und die Bildung von Entscheidungsgremien unaufhörlich mit Kritik konfrontiert wurden. Sie kritisierte daraufhin die Respektlosigkeit ihrer Kollegen. Sie hob eine Tasche neben sich und fragte: "Soll ich Lose ziehen? Soll ich die Abgeordneten per Los bestimmen? Von nun an werde ich persönlich Maßnahmen ergreifen gegen jeden, der unsere Partei nicht respektiert oder versucht, ihr zu schaden. Unsere erste Priorität ist die Loyalität zu unserer Partei. Wer dem nicht zustimmt, der kann gehen.“
Akşener nutzte den Parteitag auch als Plattform, um ihren Kritikern die Wahlniederlage zu erläutern. Hauptgrund war für sie unter anderem, dass die İYİ-Partei durch den Sechsertisch ihre Unabhängigkeit verloren hatte und gezwungen war sich anzupassen. Ihrer Aussage zufolge werde die İYİ-Partei von nun an einen unabhängigen Kurs verfolgen, was bedeutet, dass sie bei den Kommunalwahlen im März 2024 kein erneutes Bündnis eingehen werde. Nach ihrer Wiederwahl zur Parteivorsitzenden im Juni haben sie und die Parteiführung diese Botschaft erneut bekräftigt. Die bemerkenswerteste Umsetzung dieser Haltung war die Ankündigung, in der CHP-Hochburg İzmir mit einem eigenen Bürgermeisterkandidaten, Ümit Özlale, zur Lokalwahl 2024 anzutreten.
Die Kluft zwischen Stadt und Land: Chancen für die Opposition?
Eines der bedeutendsten Ergebnisse der Wahlen im Mai war die Kluft zwischen Stadt und Land. Präsident Tayyip Erdoğan erhielt in den ländlichen Gebieten, wo 20 Prozent der Wähler leben, etwa 65 Prozent der Wählerstimmen. In den städtischen Gebieten, wo 80 Prozent der Wähler leben, kam er nur auf rund 49 Prozent Zustimmung.
Dieses Gefälle stellt eine mögliche Chance für die Opposition dar. Nach genauerer Analyse wird deutlich, dass der ehemalige CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu als Spitzenkandidat in den zehn größten Städten der Türkei und in den 20 Bezirken vorne lag, die das Bündnis der Nation bereits bei den Kommunalwahlen 2019 gewinnen konnte. Daneben erzielte die Opposition auch in den sechs Provinzen Ağrı, Balıkesir, Bitlis, Denizli, Muş und Şırnak den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Und: Die Opposition hat in den fünf großen Städten, die sie der Volksallianz bei den Wahlen 2019 abgenommen hat, auch bei den Präsidentschaftswahlen die Führung übernommen.
Dabei sollte die städtische Bevölkerung aus Sicht der Opposition nicht nur als potenzielle Wählerschaft betrachtet werden. Ihre Forderungen stehen auch im Einklang mit der Vision der Opposition für eine neue Türkei in Bereichen wie Bildung, soziales Leben, Demokratie und Veränderung. Daher repräsentieren städtische Wähler ein Potenzial für eine Türkei, wie sie von der Opposition angestrebt wird.
Zukunft der Zusammenarbeit: Die Herausforderungen für die Opposition
Der Vorsitzende der rechtsextremen MHP Devlet Bahçeli hat der Öffentlichkeit in einem Interview deutlich zu verstehen gegeben, dass die Volksallianz auch bei den Kommunalwahlen gemeinsam antreten wird. Die Opposition muss hingegen ihre Strategie überdenken, in vielen Orten mit gemeinsamen Kandidaten anzutreten.
Das Bündnis der Nation hatte im Vorfeld der Wahlen im Mai zwar erfolgreich einen politischen Konsens herbeigeführt. Doch bei den Verhandlungen über die Programmatik der Opposition konnte es nicht denselben Erfolg erzielen und schuf Misstrauen unter der Wählerschaft. Letztendlich führte das Bündnis dazu, dass die Parteien ihre individuelle Identität verloren. Zweifellos litt die İYİ-Partei am stärksten unter der Bündnispolitik.
Skepsis ist jedoch angebracht, wenn jetzt die Forderung aufkommt, zukünftig überhaupt keine Bündnisse mehr zu schließen, um so die Identität der Parteien zu wahren. Diese Dynamik greift eher bei den Parlamentswahlen. Bei Kommunalwahlen stärken sich die Parteien durch die Anzahl der gewonnenen Gemeinden gegenseitig. Der Prozentsatz der Stimmen, den eine Partei bei Kommunalwahlen in den Gemeinderäten erhält, ist kein aussagekräftiger Indikator für ihre Stärke.
Obwohl seit den Wahlen im Mai nur wenig Zeit vergangen ist, hat sich die Opposition in der Türkei seither völlig verändert. Aus den Parteitagen, einschließlich der pro-kurdischen HEDEP, wird deutlich, dass alle Parteien auf eigene Faust vorgehen werden. Das klingt zwar mutig, ist aber vielleicht nicht die klügste Option für die Opposition insgesamt.