Türkei
Diplomatischer Erfolg für ukrainischen Getreidekorridor
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkt weit über das Gebiet der eigentlichen Kampfhandlungen hinaus. Insbesondere die Blockierung der Getreideexporte aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen löste weltweit Besorgnis aus, da sie in einigen Empfängerländern zu einer ernsten Versorgungskrise führte und international die Nahrungsmittelpreise auf Rekordniveau steigen ließ. Über Monate konnten sich die Kriegsparteien nicht auf einen Modus zur Verschiffung einigen. Hauptgrund waren die Verminung der Hafenzufahrten und die Angst auf ukrainischer Seite, eine Entfernung der Minen könne von der russischen Marine für Landoperationen genutzt werden. Inzwischen ist die Verschiffung des Getreides angelaufen. An der Verhandlung des Korridors war neben den Vereinten Nationen wesentlich die Türkei beteiligt, die sich seit Kriegsbeginn immer wieder aktiv als Vermittlerin betätigt hat. Doch sie hat als großer Getreideabnehmer auch selbst Interesse an der Wiederaufnahme der Exporte.
Getreidetransport aus Istanbul koordiniert
Nachdem sich die Vermittlungsversuche seitens der Türkei und der UN ab Mai intensiviert hatten, kam es am 22. Juli in Istanbul endlich zur Unterzeichnung einer Vereinbarung, die zunächst bis Mitte November gelten soll. Seit dem 1. August laufen nun Schiffe aus den drei Schwarzmeerhäfen Odesa, Piwdennji und Tschornomorsk aus. Auf ihrem Weg durch den 310 Seemeilen langen und drei Seemeilen breiten Korridor werden sie von ukrainischen Lotsenschiffen begleitet. Bevor sie auf den Weltmarkt gelangen, werden sie in einem eigens eingerichteten Kontrollzentrum in Istanbul inspiziert. Darauf hatte die russische Seite bestanden, um sicherzustellen, dass die Frachtschiffe ausschließlich für Getreide und – vor allem in Richtung Ukraine – keine Waffen oder anderen Militärgüter transportieren. Das Koordinierungszentrum hat am 27. Juli seine Arbeit aufgenommen und besteht aus je fünf 5 zivilen und militärischen Vertretern der Ukraine, Russlands, der Türkei und der Vereinten Nationen. Neben den Inspektionen soll es die Koordination der Getreidelieferungen auf den Weltmarkt sicherstellen.
20 Tage nach Inkrafttreten des Getreidekorridors haben nach Angaben des ukrainischen Infrastrukturministeriums bereits 27 Schiffe mit 670.000 Tonnen landwirtschaftlicher Produkte, vor allem Mais, Weizen, Sonnenblumenöl und Düngemittel, die ukrainischen Häfen verlassen. Weitere 18 Schiffe waren zu diesem Zeitpunkt beladen und 40 weitere Anmeldungen in der Bearbeitung.
Die aktuellen Schiffsbewegungen sind allerdings erst ein vorsichtiger Anfang. Der ukrainische Getreideexport lag in der ersten Augusthälfte nur etwa auf der Hälfte des Vorjahresniveaus. Das Kyjiwer Infrastrukturministerium hofft, in der näheren Zukunft etwa 100 Schiffe pro Monat in seinen Häfen abzufertigen. Die seit Kriegsbeginn blockierte Menge an Getreide beläuft sich auf über 20 Mio. Tonnen.
Der türkische Präsident, welcher zu Hause in der Türkei unter dem Druck sinkender Umfragewerte steht, kann aus dem Erfolg der Verhandlungen zumindest auf internationalem Parkett Kapital schlagen. So lobte etwa UN-Generalsekretär Guterres die Anstrengungen der Türkei bei seinem Besuch des Kontrollzentrums in Istanbul: „Meine Hoffnung ist, dass dieser außerordentliche Geist des Abkommens, den man im gemeinsamen Kontrollzentrum sieht, Früchte trägt und in einen Prozess mündet, an dessen Ende alle gern Frieden hätten.“
Die Türkei als Getreideabnehmer und -exporteur
Das Engagement Ankaras an der Vermittlung des Getreidedeals dürfte allerdings nicht nur auf die Erhöhung seiner internationalen Reputation vor dem Hintergrund seiner delikaten Position zwischen Russland und seinen NATO-Partnern zielen. Die Türkei hat ein handfestes Interesse, selbst wieder Getreide aus der Ukraine zu erhalten. Während die Abhängigkeit einiger Länder in Nordafrika und Asien von ukrainischem Weizen weit höher ist (so macht der Anteil ukrainischen Weizens an den Importen etwa des Libanon 81,2 Prozent, Tunesiens 49,3 Prozent und Libyens 48,3 Prozent aus, in der Türkei sind es unter 10 Prozent), war die Türkei im Jahr 2021 mit 1,19 Mio. Tonnen dennoch der viertgrößte Weizenabnehmer aus der Ukraine. Von den in der ersten Augusthälfte verschifften Nahrungsmitteln sind laut dem Koordinierungszentrum in Istanbul 26 Prozent in die Türkei gegangen. In welchem Umfang das Land allerdings von den Lieferungen insgesamt profitieren wird, ist noch unklar, da dazu keine konkreten Vereinbarungen getroffen wurden.
Türkische Verbraucher warten verzweifelt auf ein Ende der Preissteigerungen für Lebensmittel. Die bereits seit Jahren sinkenden Ertragsraten in der türkischen Landwirtschaft, die durch Einflüsse des Klimawandels sinkende Produktivität, die infolge der massiven Inflation steigenden Preise für Düngemittel, Diesel, Strom und landwirtschaftliche Betriebsmittel sowie eine verfehlte Wirtschaftspolitik haben die Preise für einheimische Mittel in die Höhe getrieben. Die ausbleibenden Importe aus der Ukraine verschärften die Situation zusätzlich.
Dabei geht es bei der Wiederaufnahme der Importe aus der Ukraine nicht nur um die Versorgung der türkischen Bevölkerung mit bezahlbaren Lebensmitteln, sondern auch um die Balance in einem wichtigen Wirtschaftszweig: Die Türkei ist nämlich nicht nur ein großer Importeur von Getreide, sondern auch ein großer Exporteur. Ein Großteil des eingekauften Getreides wird im Land veredelt und weiterverkauft.
Der Ausgang des Krieges zwischen Russland und der Ukraine sowie die Sicherstellung der ukrainischen Getreidelieferungen wird daher erhebliche Auswirkungen auf die türkische Lebensmittelindustrie einschließlich ihres Exportsektors und auf die Verbraucherpreise in der Türkei haben. Während die Getreidepreise international sofort nach Abschluss des Abkommens zum Getreidekorridor um mehrere Prozentpunkte nachgaben, steigen sie laut dem türkischen Verband der Getreidelieferanten in der Türkei weiterhin an. Außer den Händlern, die bei einem Preisabfall um den Wert ihrer Lagerbestände fürchten, kann dies niemanden freuen, und insbesondere die Endverbraucher hoffen auf eine baldige Umkehr des Trends.
Beate Apelt ist Projektleiterin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Türkei.
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