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Türkei
Ekrem Imamoğlu – ein verhinderter Kandidat?

Ekrem Imamoğlu

Ekrem Imamoğlu

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Ildun

Als Ekrem Imamoğlu am 14. Dezember 2022 von einem Istanbuler Gericht zu zwei Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen Haft verurteilt wurde, gab es wohl niemanden, der nicht einen Zusammenhang zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen sah. Der Istanbuler Oberbürgermeister gehört zu den Oppositionspolitikern, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan erfolgreich herausfordern könnten. Ein Dorn im Auge ist er dem Langzeit-Präsidenten spätestens, seit er die Geschicke der größten türkischen Metropole lenkt, in der fast ein Viertel der Bevölkerung lebt. Aus den Lokalwahlen 2019 war Ekrem Imamoğlu als Gewinner hervorgegangen und markierte damit einen Wendepunkt in der Erfolgsgeschichte der AKP, die in derselben Wahl auch die Bürgermeisterposten anderer Großstädte verlor. Sie zweifelte die Wahl an und machte sich für ihre Annullierung durch den Obersten Wahlrat stark. Die Wiederholungswahl gewann Imamoğlu allerdings mit noch deutlicherem Vorsprung. In der Folge kam es zu der Äußerung, für die er nun verurteilt wurde. Konkret hatte er in einer Pressekonferenz am 4. November 2019 gesagt, dass die Wiederholung der Lokalwahl das internationale Ansehen der Türkei beschädige und die Verantwortlichen „Dummköpfe“ (türk. ahmak) seien. Damit reagierte er auf Innenminister Süleyman Soylu, der ihn zuvor seinerseits als „Dummkopf“ bezeichnet hatte, nachdem er beim Europarat die türkische Regierung kritisiert hatte. Das Urteil erging wegen Beleidigung des Obersten Wahlrats.

Drohendes Politikverbot

Während es derzeit noch von höheren Gerichtsinstanzen bestätigt werden muss, darf der Bürgermeister weiter seinen Amtsgeschäften nachgehen. Üblicherweise dauert die Überprüfung mindestens ein Jahr beim Berufungsgericht und weitere zwei bis drei Jahre beim Kassationsgericht. Eine finale Entscheidung vor der Wahl im Mai, die ein Politikverbot für Imamoğlu in Kraft treten ließe, ist nicht wahrscheinlich. Völlig ausschließen lässt sich ein solches Szenario angesichts der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz jedoch nicht. In diesem Fall würde Imamoğlu die Strafe voraussichtlich nicht absitzen müssen – bei Strafen unter drei Jahren gehen Verurteilte zumeist nur für eine Nacht ins Gefängnis und werden dann auf Kaution freigelassen. Sein Amt als Bürgermeister dürfte er allerdings nicht mehr bekleiden. Dies würde bis zum Ende der Wahlperiode 2024 von der AKP besetzt werden, die im Istanbuler Stadtrat die Mehrheit hat. Zudem wäre er von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen und damit als einer der aussichtsreichsten Gegenkandidaten Erdoğans aus dem Rennen. Schon allein das über ihm hängende Damoklesschwert eines Politikverbots – sei es bei einer Verurteilung vor der Wahl oder sogar nach einem möglichen Wahlsieg – dürfte absehbar dazu führen, dass seine Kandidatur von den Führern der Oppositionsparteien als zu riskant empfunden und er gar nicht erst aufgestellt wird.  

Unfairer Wettbewerb…

Für die anstehenden Wahlen ist das Urteil gegen Imamoğlu mindestens in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Erstens illustriert es, wie in einer Wahl, deren Ausgang bei allen autoritären Veränderungen im Land noch ungewiss ist, potenziell gefährliche politische Herausforderer aus dem Weg geräumt werden. Imamoğlu ist dabei weder der erste noch der einzige Adressat. Bereits im vergangenen Jahr war seine Parteikollegin, die Vorsitzende der Istanbuler CHP-Organisation Canan Kaftancıoğlu, zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt ist. Die Vorwürfe lauteten Beleidigung der Republik Türkei und des Präsidenten, den sie in Tweets als Dieb bezeichnet hatte. Kaftancıoğlu war maßgeblich an der erfolgreichen Wahlkampagne für Imamoğlu in der Bürgermeisterwahl 2019 beteiligt gewesen und unterliegt nun einem Politikverbot. Noch weit größere Auswirkungen auf den politischen Wettbewerb dürfte das Verbotsverfahren gegen die prokurdische HDP haben, das noch vor den Wahlen zu einem Abschluss kommen könnte. Anfang Januar hatte bereits das Verfassungsgericht entschieden, die HDP von der staatlichen Finanzierung auszuschließen, was ihre Möglichkeiten für eine effektive Wahlkampagne empfindlich einschränkt. Sicher ist ein Parteiverbot indes nicht. Denn interessanterweise stimmten im Verfassungsgericht nur acht von 15 Mitgliedern für das Einfrieren der HDP-Konten, darunter auch vier von Erdoğan ernannte Richter. Für ein Verbot braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Doch unabhängig davon, ob die HDP formal von der Wahl ausgeschlossen wird, steht sie ohne staatliche Finanzierung bereits massiv benachteiligt da.

…und Mobilisierung

Das Gerichtsurteil vom 14. Dezember hatte aber auch einen anderen Effekt: Es mobilisierte eine große Zahl von Unterstützern für Imamoğlu und erhöhte seine Popularität unter den Oppositionsanhängern. Tausende versammelten sich am Tag des Urteils vor dem Rathaus, schwenkten türkische Fahnen und skandierten „Rechte, Gesetze, Gerechtigkeit“ und „Eines Tages wird die AKP sich vor dem Volk verantworten“. Kleinere Unterstützergruppen versammeln sich seither regelmäßig. Imamoğlu verurteilte das Vorgehen gegen ihn in einer Ansprache an seine Unterstützer und sagte, die Justiz in der Türkei sei in ein Instrument zur Bestrafung von Dissidenten verwandelt worden. Die Führer der anderen Parteien des oppositionellen „Sechsertisches“ suchten medienwirksam den Schulterschluss, insbesondere Meral Akşener, die Vorsitzende der IYI-Partei. Nur der eigene Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu war am fraglichen Tag auf Besuch in Berlin, was ihm erhebliche innerparteiliche Kritik für die unsensible Terminplanung einbrachte.

Nicht wenige Beobachter vergleichen den Fall Imamoğlu mit dem Aufstieg Erdoğans, der als Istanbuler Bürgermeister 1998 ebenfalls durch ein Gerichtsurteil aus der Politik verbannt wurde. Er saß damals für das Anstacheln religiösen Hasses vier Monate im Gefängnis und stieg danach umso stärker wieder ins politische Geschäft ein. Auch die Verurteilung Imamoğlus schien zunächst den Effekt zu haben, dass sich die Oppositionsreihen hinter ihm schließen und der Fall als ein Kampf nicht um seine Person, sondern um die demokratische Zukunft der Türkei gesehen wird. Den gemeinsamen Willen, ihn aus diesem Momentum heraus als gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, findet der „Sechsertisch“ aber offensichtlich nicht.

Wer wird Oppositionskandidat?

Laut einer Umfrage des privaten Instituts ORC Research aus den ersten Januartagen könnten drei CHP-Politiker in einer Stichwahl gegen Erdoğan gewinnen: Der Oberbürgermeister von Ankara Mansur Yavaş mit 49,4 Prozent (Erdoğan 39,8 Prozent, 10,8 Prozent der Befragten sind unentschieden), Ekrem Imamoğlu mit 47,0 Prozent (Erdoğan 41,9 Prozent, 11,1 Prozent unentschieden) sowie Meral Akşener mit 46,3 Prozent (Erdoğan 41,7 Prozent, 12 Prozent unentschieden). Die letztere hat jedoch stets klargemacht, nicht für die Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen, sondern das Ministerpräsidentenamt in einem künftigen wiederhergestellten parlamentarischen System anzustreben. Die Stichwahl verlieren würde der genannten Umfrage zufolge Kemal Kılıçdaroğlu mit 41,8 Prozent gegen 42,5 Prozent für Erdoğan (15,7 Prozent unentschieden).

Imamoğlu scheint der für den Amtsinhaber gefährlichste Gegenkandidat zu sein, da er für die größte Bandbreite an Wählern akzeptabel ist, während Yavaş wegen seiner Vergangenheit in der rechtsnationalistischen MHP vor allem kurdischen Wählerschaften als übermäßig nationalistisch erscheinen dürfte. Die Spitzen der sechs Parteien der „Nationen-Allianz“ – neben CHP und IYI sind dies DEVA, Saadet, Gelecek und Demokrat Parti – treffen sich erneut Ende Januar. Noch vor Monatsablauf wollen sie einen gemeinsamen Fahrplan für den politischen Wandel vorlegen. Die Kandidatenfrage soll erst im Februar entschieden werden und sorgt offenbar für Friktionen innerhalb des Bündnisses. Experten zufolge dürfte es trotz der schlechteren Umfragewerte auf den Führer der größten Oppositionspartei Kılıçdaroğlu hinauslaufen.

Weitere Verfahren gegen den Oberbürgermeister

Derweil sieht sich Ekrem Imamoğlu einer weiteren Anklage gegenüber, die auf einem angeblich unkorrekten Vergabeverfahren während seiner Zeit als Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü im Jahr 2015 fußt. Die erste gerichtliche Anhörung dafür ist auf den 15. Juni angesetzt. Mit Imamoğlu sind sechs Beamte der Stadtverwaltung angeklagt, die Staatsanwaltschaft fordert drei bis sieben Jahre Gefängnis. Die laut Anklage unkorrekte Auftragsvergabe an eine Personalbeschaffungsfirma soll die Stadtkasse damals 250.086 TL gekostet haben. Imamoğlus Anwalt Kemal Polat sagt, der Bürgermeister sei in das Vergabeverfahren überhaupt nicht eingebunden gewesen und daher strafrechtlich nicht zu belangen. Das Ganze sei damals bereits vom Innenministerium und dem Staatsrat geprüft und für unproblematisch befunden worden.

Außerdem gibt es eine neuerliche Untersuchung wegen des Vorwurfs, dass bei der Stadt Istanbul Personen ohne Überprüfung ihres Vorstrafenregisters eingestellt worden seien, und von denen etliche Terrorverbindungen hätten. Der Vorsitzende der hierfür eingesetzten Untersuchungskommission hat inzwischen seine Tätigkeit niedergelegt, vorgeblich aus gesundheitlichen Gründen, nachdem er – so der Journalist Tolga Sardan – politischen Druck auf die Arbeit der Kommission beklagt hatte.  

Während die Verurteilung Imamoğlus wie oben beschrieben nicht unmittelbar zu einem Politikverbot führt, könnten die beiden hier genannten Untersuchungen dies sehr wohl, da es um Verletzungen der Pflichten im Amt geht. Sobald offiziell strafrechtliche Ermittlungen beginnen, könnte Imamoğlu daher sowohl von Wahlen ausgeschlossen werden als auch seines Amtes als Oberbürgermeister enthoben werden.

Wahlen – frei und unfair oder nicht einmal das?

Bei aller Kritik, die an vergangenen Urnengängen in der Türkei geäußert worden ist, galten Wahlen doch immer als im Wesentlichen frei. Dass die Menschen ihnen Bedeutung beimessen, drückte sich nicht zuletzt in einer hohen Wahlbeteiligung aus (um die 85 Prozent in den Parlamentswahlen 2018 und Lokalwahlen 2019). Doch inzwischen sind ca. 90 Prozent der Medien AKP-nah. Und der „Missbrauch der Justiz, um Schlüsselfiguren der Opposition an die Seite zu drängen oder ruhigzustellen“, den Tom Porteous festmacht, stellvertretender Direktor bei Human Rights Watch, schränkt die Qualität dieses demokratischen Kernprozesses in einer Größenordnung ein, die es in der jüngeren Geschichte der Türkei nicht gegeben hat. Salim Çevik und Hürcan Aslı Aksoy vom Center for Applied Turkey Studies (CATS) in Berlin sehen die politische Ausschaltung des möglichen Herausforderers Imamoğlu und auch das Verbotsverfahren gegen die HDP als Zeichen des Übergangs von einem „kompetitiven Autoritarismus“ zum reinen Autoritarismus, dem das bisher noch vorhandene Element des Wettbewerbs inzwischen fehlt. Kurz gesagt: Bisher wusste man bei allen Einschränkungen rechtsstaatlicher Prinzipien nicht im Voraus, wer die Wahl gewinnt. Das Jahr 2023 wird zeigen, ob dies auch für die Zukunft gilt.