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Freiburger Thesen
Walter Scheel: Für eine Gesellschaft und Außenpolitik der Toleranz und der Vernunft

Walter Scheel Freiburger Thesen
Walter Scheel

Auszug aus der Rede von Walter Scheel auf dem 22. Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei, der vom 25.–27. Oktober 1971 stattfand.

(…) Wir Freien Demokraten haben mit den Freiburger Thesen gerade im gesellschaftspolitischen Bereich unmißverständlich das Problem der gesellschaftlichen Macht aufgegriffen und eine Praxis vorgeschlagen, die konsequent liberal ist: als Vertrauen in die Mündigkeit der Staatsbürger, als Mißtrauen gegen konservativ patriarchalische Privilegien, als Mißtrauen auch gegen sozialistischen Kollektivismus, der ebenso wie der konservative Ansatz grundsätzlich auf Bevormundung statt auf Mündigkeit gegründet ist. Die Freien Demokraten sind der unverbesserlichen Ansicht, daß in der demokratischen Praxis eines freiheitlichen Rechtsstaates die auf die Mündigkeit der Einzelnen gegründete politische Vernunft eine Partei braucht.


(…) Wir haben in dieser Situation mehrere Pflichten: Wir haben die Pflicht, Deutschland davor zu bewahren, wieder einmal ein „rechtes“ Verhältnis zur Macht mit allen schlimmen Folgen zu bekommen in einer Situation, wo, im Zentrum Europas, das Gebot der Toleranz das erste Gebot der Stunde ist. Zweitens, wir haben die gesellschaftspolitische Reform so weit vorzutragen, daß die Verfassungswirklichkeit eine tatsächliche konkrete Stütze des staatsbürgerlichen Bewußtseins eines jeden einzelnen deutschen Bürgers wird und damit sein Verhältnis zur Demokratie des freiheitlichen Rechtsstaates eine Stabilisierung erfährt, die nicht von den Konjunkturen des Wohlstandes

allein abhängig ist. Wir sind in der Tat nicht so leichtsinnig zu glauben, daß die Demokratie in der Bundesrepublik schon unausreißbare Wurzeln getrieben hat, daß sie in der Tat schon so zuverlässig ist, um einer Partei, die nur die Macht will, das Vertrauen deutlich zu entziehen.

Der Politik der Vernunft weht der Wind immer noch ins Gesicht, und das hat nicht zuletzt seinen Grund darin, daß die gesellschaftspolitische Struktur dieses Landes demokratisch noch nicht hinreichend durchgebildet ist. Drittens, weil die Machtpolitik der Rechten sich stets insbesondere außenpolitisch ihre Begründung sucht, wäre in der gegenwärtigen Weltsituation die Reetablierung einer solchen Politik weltpolitisch unerträglich und äußerst gefährlich.

Wir haben mit großer Mühe die Voraussetzung dazu geschaffen, daß der Kalte Krieg in Europa abgebaut wird. Wir haben eine Entspannungspolitik eingeleitet, die nicht nur dem Kalten Krieg ein Ende setzen will, sondern in ihrer Ausrichtung darauf abzielt, Europa einen sicheren Frieden zu garantieren, der nicht zuletzt davon abhängig ist, daß in Europa jeder Grund für bewaffnete Konflikte

ausgeräumt wird und damit die Voraussetzung auch einer Außenpolitik der Toleranz, einer Außenpolitik der Vernunft gefestigt wird.

(…)

Die alte Faustregel, daß Außenpolitik zumal in demokratischen Ländern der Ausdruck innenpolitischer Verhältnisse ist, hat sich nicht geändert. Wer eine liberale Außenpolitik verfolgt, muß also Sorge tragen, daß diese Außenpolitik einer liberalen Innenpolitik entspricht. Es geht nämlich nicht allein um die Zustimmung zu konkreten außenpolitischen Entwicklungen, sondern es geht darum, daß diese Entwicklungen sich rational aus den innenpolitischen Gegebenheiten entwickeln. Außenpolitische

Krisen sind wesentlich Folgen von innenpolitischen Krisen. Es ist die Aufgabe der Liberalen, die Gesellschaft innenpolitisch krisenfest zu machen und, was dabei die FDP betrifft, liberale Grundsätze innenpolitisch immer unabweisbarer zu verankern.

(…)

Die Freiburger Thesen zeigen die Richtung an, die zum Erfolg führen wird. Wir brauchen den Erfolg der Vernunft, denn er ist der Erfolg der Freiheit. Die Freie Demokratische Partei ist in Gezeiten geraten, in der von ihrem Durchsetzungsvermögen, von ihrer Überzeugungskraft weltpolitische Folgen ausgehen. Wir werden uns daran zu bewähren haben.

Den vollständigen Text lesen Sie in der Neuausgabe „50 Jahre Freiburger Thesen. Wandel beginnt im Kopf"