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Serbien
Tiefe Dankbarkeit und bittere Enttäuschung

Die Reaktionen auf die Abschiedsreise von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den Westbalkan fallen äußerst ambivalent aus.
Angela Merkel und Aleksandar Vučić
© FoNet

„Wir werden nie vergessen, wie sie uns geholfen hat. Ich erinnere daran, dass eine Frau zu uns kommt, die ein Land vertritt, das unser größter Handelspartner und wichtigster Investor ist.“

Bereits im Vorfeld ihrer Reise wurde die deutsche Kanzlerin vom serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić mit überschwänglichen Lobeshymnen nachgerade überschüttet. Aus den Reihen der Oppositionsparteien hagelte es dagegen bittere Kritik: Die geteilten Reaktionen auf die Abschiedsreise der scheidenden Bundeskanzerlin auf den Westbalkan illustrieren zugleich die Stärken und Schwächen ihres Engagements in der Region.

Nicht einmal mehr der obligatorische Journalistentross aus Berlin war mehr mitgereist. Doch zumindest bei den EU-Anwärtern auf dem Westbalkan hat der zweitägige Abschiedsbesuch der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Woche trotz seiner eher symbolischen Bedeutung für Wirbel gesorgt.

Zum letzten Mal stimmten ihre Gesprächspartner in Belgrad und Tirana das hohe Lobeslied auf Merkel als „Lokomotive der EU“ an: Keine Person habe seit dem Zweiten Weltkrieg mehr für die Region getan als „die beste Führungskraft in Deutschland“, versicherte Albaniens Premier Edi Rama der von ihm mit einem Orden ausgezeichneten Besucherin: „Ohne die Bundeskanzlerin wird der Balkan nicht mehr so sein, wie er ist.“

Willkommene Wahlkampfhilfe

Wehmut und selbst Verlustängste offenbarte darüber hinaus Serbiens Landesvater: Merkel sei eine „Autorität, der wir uns alle verpflichtet und verantwortlich gefühlt haben“. Und weiter: „Ich habe ein bisschen Angst, was auf uns zukommt: Wer wird uns nun aus Europa anrufen und sagen, dass wir mehr Straßen bauen müssen statt miteinander zu streiten?“

Einmal mehr offenbarte sich hier ein autoritäres Politikverständnis in Reinkultur. Und dazu gehört: Die nationale wie die internationale Öffentlichkeit sind nicht anders zu adressieren als durch intellektuelle Unterforderung.

Der Präsident des bevölkerungsreichsten Westbalkanlandes fragt, was aus den sich immer wieder zankenden Staatsmännern und -frauen wohl werden soll, wenn der Ruf der so klugen wie verständnisvollen Gouvernante, die nun bedauerlicherweise ihren Abschied nimmt, in Zukunft ausbleibt? Dass der Autor dieses vermeintlich „ein bisschen Angst“ ausdrückenden Satzes freilich selbst nicht glaubt, was er da sagt, und das Ganze als Teil einer in autoritäre Strukturen eingebetteten Kommunikationsstrategie gelesen werden sollte, macht die Lage allerdings nicht besser, im Gegenteil. Verwunderlich bleibt, dass die deutsche Kanzlerin - ansonsten für derlei Überzeichnungen und Charmeoffensiven eher wenig empfänglich - dieses Spiel über lange Zeit mitspielte, ja mitorganisierte und ihm noch Nahrung gab:

Sie habe den serbischen Präsidenten als einen Menschen kennen gelernt, der versuche, Versprechungen auch in die Tat umzusetzen.

Das war eine Steilvorlage, die auch sogleich – verkürzt und zugespitzt – verwertet wurde.

Wichtig sei vor allem gewesen, so die Bilanz von Serbiens Finanzminister Sinisa Mali, dass Merkel herausgestrichen habe, dass Vučić „seine Versprechen erfüllt“. Dies sei „eine großartige Botschaft, die vom Ansehen unseres Präsidenten, vom Ansehen Serbiens zeugt.“

Diesen Satz wird man im heraufziehenden Wahlkampf – für April 2022 sind schliesslich Präsidentschafts- Parlaments- und Lokalwahlen in Belgrad angesetzt – sicher noch häufiger hören. Nicht, dass ein neuerlicher Wahlsieg des amtierenden Präsidenten und seiner Fortschrittspartei ohne die Hilfe der deutschen Kanzlerin ernsthaft in Frage stünde. Aber dieser Besuch verschaffte ihm darüber hinaus eine kaum zu überschätzende internationale Rückendeckung mit allen dazugehörigen symbolischen Weihen.

Enttäuschung bei der Opposition

Tiefe Enttäuschung, Verbitterung und Wut hat Merkels Abschiedsvisite hingegen bei Oppositionellen, Bürgerrechtlern und unabhängigen Medien ausgelöst. Ihr Vorwurf: mit ihrem kritiklosen Hofieren von autoritär gestrickten Regenten wie Präsident Vučić habe Merkel die demokratischen Kräfte in der Region geschwächt und autoritären Tendenzen Vorschub geleistet.

Die Kanzlerin habe Vučić „die ganze Zeit unterstützt“, ärgerte sich Dragan Djilas, der Chef der oppositionellen SSP: „Jetzt wo Merkel die Politik verlässt, wäre es anständig, dass sie ihn wieder mitnimmt.“ In ein ähnliches Horn stieß die regierungskritische Zeitung „Nova“, die in der „Stabilokratie“ und gesunkenen Zustimmung für die EU das „Erbe“ Merkels sieht. Der Zustand der Demokratie habe bei Merkel nie im Fokus gestanden: „Leben Sie wohl Angela und nehmen Sie Vučić bitte mit.“

Merkel habe „kein Wort“ über den „katastrophalen Zustand“ der Pressefreiheit, des Rechtsstaats, die „Kriminalisierung“ und den zunehmenden Spannungen in der Region verloren, bedauerte Serbiens Ex-Präsident Boris Tadić: Denn damit hätte sie eingestehen müssen, dass sie sich in Vučić „dramatisch geirrt“ habe. Es sei ein „schlechtes Signal“, dass Merkel „erneut zu Vučić gegangen sei, um ihn zu unterstützen“, liess sich derweil in Sarajevo Željko Komšić, das kroatische Mitglied in Bosniens dreiköpfigem Staatspräsidium, vernehmen: „Serbien kann nicht der Boss auf dem Balkan sein. Alle Staaten müssen dieselbe Behandlung erhalten.“

Dass sie mit jedem Würdenträger den Austausch suchte, kann man der Realpolitikerin freilich kaum ankreiden. Aber auch Analysten wie der Grazer Politologe Florian Bieber bescheinigen ihrer Westbalkan-Politik einen Mangel an strategischen Visionen. Stattdessen habe Merkel auf kurzfristige Taktik und pragmatische Interessen gesetzt. Gleichzeitig habe das Ausbleiben einer deutlicheren Kritik von Seiten Berlins „die Demokratie in der Region geschwächt“.

Tatsächlich hat Merkels letzte Balkanreise erneut die Grenzen ihres bemühten, aber auffällig ertraglosen Einsatzes für die EU-Erweiterung demonstriert. In ihren 16 Amtsjahren hat nur Kroatien 2013 den Beitritt zur EU geschafft. Wie viele Jahre die Anwärterstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien noch im EU-Wartesaal ausharren müssen, ist mittlerweile völlig ungewiss. Die Ausgangslage erscheint heute schlechter zu sein als bei ihrem Amtsantritt 2005. Merkel sprach bei ihrer Reise von einem „noch langen Weg“.

Tatsächlich ist die EU-Erweiterung hoffnungslos festgefahren, was freilich nicht zuletzt auch am fehlenden politischen Willen zu tiefgreifenden rechtsstaatlichen Reformen der autoritären Regenten liegt. Es liegt nicht an der EU, dass etwa in den Beitrittsverhandlungen mit Serbien über Jahre kein weiteres Kapitel geöffnet werden konnte. 

Hoffnung auf einen Restart

Auch wer sich von der deutschen Bundeskanzlerin zum Abschied diesbezüglich offene Worte und eine Vision zur wirksamen Beschleunigung des Beitrittsmarathons erhofft hatte, wurde enttäuscht. Der Austausch diplomatischer Höflichkeiten ging mit vorsichtigen Ermahnungen zu weiteren Reformen und ein wenig Lob für vermeintlich erzielte „Ergebnisse“ durch den von ihr 2014 ins Leben gerufenen „Berliner Prozess“ einher. Zu Recht betonte Merkel erneut die geostrategische Bedeutung der EU-Erweiterung. Doch eine effektive Strategie zu deren Umsetzung vermochte die Liebhaberin der kleinen diplomatischen Schritte erneut nicht ansatzweise zu präsentieren.  

Merkel sei nur an Stabilität gelegen gewesen, aber habe zur „Zerstörung“ der unabhängigen Institutionen und der Demokratie in Serbien geschwiegen, wirft der Oppositionspolitiker Djilas der Kanzerlin vor: Er hoffe, dass eine neue Regierung in Berlin als Befürworter der Erweiterung auf eine „andere Heransgehensweise“ setzen werde.

Jeder deutsche Bundeskanzler werde sich für den Westbalkan „weiter interessieren“, bemühte sich Merkel die Befürchtungen ihrer Gastgeber vor einem nachlassenden Engagement Berlins zu zerstreuen. Doch egal, ob Merkels Erben in Berlin und Brüssel an dem bisherigen Beitrittsmodus festhalten oder sich um die Entwicklung von Vorstufen oder Alternativen zu der fernen Vollmitgliedschaft bemühen: Beim Umgang mit den Anwärtern ist ihnen mehr Realismus, Offenheit, Konsequenz und Kreativität zu wünschen.