Jetzt Mut machen
Wir müssen jeden Tag überprüfen, ob der Shutdown noch gerechtfertigt ist
Politik und Regierung müssen immer wieder hinterfragen, ob und wann Maßnahmen wie der aktuelle Ausnahmezustand neu auszurichten sind. Denn Entscheidungen, die heute Leben retten, können morgen andere Menschenleben aufs Spiel setzen.
Bei aller Divergenz der Antworten schält sich mittlerweile ein weithin geteilter Konsens heraus. Erstens kann allein soziale Distanz das Virus auf Distanz halten und eine exponentielle Ausbreitung wirksam und nachhaltig verhindern. Und zweitens dürfte – aller Isolation, Kontaktverbote und Shutdowns zum Trotz – der alte Alltag, wenn überhaupt, so nicht nach Wochen, wohl auch nicht nach Monaten, sondern vermutlich weit später und eigentlich erst nach flächendeckender Einführung eines wirkungsvollen Impfstoffs zurückkehren.
Es steht der Ökonomik nicht zu, die medizinischen, epidemiologischen und virologischen Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu kritisieren. Im Gegenteil, die Verantwortlichen des Gesundheitswesens, beim Robert-Koch-Institut und an den Brennpunkten vor Ort in Intensivstationen und Krankenhäusern leisten momentan Großartiges.
Dazu gehört auch, dass sie erklären und erläutern, Ursache und Wirkungszusammenhänge aufzeigen und vor allem auch aufklären, was alle mit vergleichsweise geringem Aufwand beitragen können, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen und andere vor schlimmen und oft lebensbedrohlichen Folgen einer Infektion zu schützen.
Bei allem Respekt vor den wahren Helden heutiger Krisentage bleibt der Ökonomik lediglich die Aufgabe, die Wissenschaftlichkeit des Erkenntnisgewinns zu hinterfragen. Denn wissenschaftliches Arbeiten hat weniger mit den Besonderheiten einzelner Fächer dafür aber sehr viel mit allgemein akzeptierten Grundsätzen zu tun.
Werden Daten und Fakten korrekt gesammelt und statistisch nach dem aktuellen Standard aufgearbeitet? Werden Hypothesen über Wenn-dann-Beziehungen logisch schlüssig, konsistent und widerspruchsfrei formuliert?
Erfüllen die empirischen Tests alle statistischen Erfordernisse an Unabhängigkeit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit, Übertragbarkeit – sind die Ergebnisse robust gegenüber Änderungen bei Annahmen, Hypothesenbildung, oder sind sie sensitiv und verlieren ihre Schlüssigkeit, wenn an den Schrauben von Theorie, Empirie und Prognose gedreht wird?
Wie weit sind Ergebnisse die Folge der Annahmen oder kultureller, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Eigenarten, die jedoch von Bevölkerung zu Bevölkerung, von Land zu Land und von Periode zu Periode variieren können – aber nicht müssen?
Das sind die Fragen, die ganz grundsätzlich und disziplinunabhängig der Praxis guten wissenschaftlichen Arbeitens entsprechen. Sie werden dann von allerhöchster Wichtigkeit, wenn es in Masse um Tod oder Leben, Sein oder Nichtsein von Gesellschaften geht.
Werden Fakes als Fakten und Glaubenssätze als wissenschaftliche Prognosen eingestuft, kann das katastrophale Folgen haben und einzelne Menschen, aber auch ganze Gesellschaften ins Verderben stürzen. Sollten in so schwierigen Zeiten Prognosen eher auf Gefühlen und Meinungen als gesicherten Erkenntnissen und Wissen basieren, steigt das Risiko, einem falschen Kompass zu folgen. Gute Politik und gutes Regieren sind gerade in Krisenzeiten mehr denn je auf gute wissenschaftliche Beratung angewiesen.
An der Stelle zeigt sich ein fundamentales Problem der Coronakrise. Für Prognosen fehlt es an historischer Erfahrung, die eine Extrapolation in die Zukunft zulässt. Wie schwerwiegend bis tödlich für einzelne Altersgruppen die Erkrankung verläuft, in welchem Ausmaß und mit welchen Langzeitfolgen Jüngere anders als Ältere betroffen sind, ist unter den Fachexperten umstritten.
Genauso besteht Unsicherheit, ob und wie gesundete Erkrankte erneut infiziert werden können, wie hoch die Dunkelziffer der unentdeckt Infizierten ist, oder wann ein Impfstoff zur flächendeckenden Anwendung verfügbar sein wird. Und schließlich bleibt das Wissen mangelhaft, welches Gewicht welchen Vorerkrankungen oder individuellen Verhaltensweisen wie beispielsweise dem Nikotinkonsum zukommt.
Jenseits der direkten Auswirkungen des Coronavirus bleibt ebenso spekulativ, welche Folgen ein ökonomischer Vollstopp auf die Wirtschaft, Beschäftigung und Wohlstand haben wird und ob sich auch bei dieser Pandemie bestätigt, was sich in anderen Krisen gezeigt hat, nämlich, dass (ökonomisch) Schwächere ganz besonders betroffen sind, weil sie weit geringere Optionen haben, den Herausforderungen auszuweichen und sich an neue Gegebenheiten anzupassen.
Eine Maßnahme wie ein Lockdown muss ständig überprüft werden
Und völlig offen ist, wie eine Isolationsstrategie die Psyche und das Wohlbefinden der Menschen, deren Lebensfreude und Widerstandskraft gegenüber einer Vielzahl von gesundheitsschädigenden Einflüssen beeinträchtigen wird – vor allem wenn unklar bleibt, wie lange das alles dauern wird.
Natürlich ist jetzt nicht die Zeit der wissenschaftlichen Langzeitstudien, der langwierigen Verfahren und akademischer Kontroversen, bis aus Meinung Wissen und aus Einzelanalysen allgemein belastbare Erkenntnis wird. Es brennt und rasches Eingreifen tut Not. Da besteht nicht der geringste Zweifel.
Angesichts der immensen – gerade auch wissenschaftlichen – Unsicherheit der Prognosen, die streng wissenschaftlich eigentlich gar keine belastbare Voraussagen sind, weil es beim Coronavirus noch keine tragfähigen Annahmen zu den Wahrscheinlichkeiten gibt, dürfte es verständlich und vernünftig sein, wenn die Bundesregierung nun mit dem Lockdown zunächst auch radikale Maßnahmen durchsetzt.
Sie folgt damit dem aktuellen Wissensstand, dass mit einer Strategie der sozialen Distanz und Kontaktminimierung Leib und Leben zunächst besser geschützt werden können als mit allen anderen denkbaren Alternativen.
Aber es entbindet erst die Wissenschaft und in ihrem Gefolge die Politik nicht vor der Aufgabe, nun umso intensiver mit Hochdruck stets und ständig zu überprüfen, ob der eingeschlagene Kurs stimmt und auch weiterhin zu verfolgen sei. Zu beurteilen bleibt, ob die beschlossenen drastischen Einschränkungen individueller Freiheitsrechte den Zielen dienen oder nicht. Und ob die Verhältnismäßigkeit weitreichender Notstandsmaßnahmen (noch) gegeben sein wird.
So abstrakt ökonomistisch es für viele klingen mag, bleibt eine einfache Beobachtung auch im Zeitalter des Coronavirus richtig. Nicht nur Menschen können schwer(st) erkranken. Auch Wirtschaft und Gesellschaft können kollabieren, was dann wiederum Menschenleben gefährden kann.
Prof. Dr. Thomas Straubhaar ist Mitglied des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.
Dieser Artikel erschien erstmals am 25. März auf welt.de und ist auch hier zu finden.