Wirtschaftslage in Deutschland
Wo ist das Wachstum?
Der Londoner ECONOMIST nannte Deutschland im August "the sick man of Europe". Und nun zieht der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten mit Zahlen nach: Er sieht für die deutsche Wirtschaft eine strukturelle Stagnation voraus - über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte. Eine niederschmetternde Prognose, vorgetragen mit großer Glaubwürdigkeit.
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei zentrale Gründe: Zum einen erleben wir eine schleichende Veränderung der Palette von Waren und Dienstleistungen, die von der deutschen Wirtschaft hergestellt werden - hin zu Produkten mit tatsächlich oder vermeintlich kleinerem ökologischen Fußabdruck, insbesondere durch den zunehmend flächendeckenden Enstieg in die regenerativen Energien. Der wird zwar von Klimapolitikern gerne als Wachstumsbeschleuniger gepriesen, ist aber in Wahrheit das genaue Gegenteil. Denn das Ersetzen einer Gasheizung durch Wärmepumpe oder Fernwärme und der Kauf eines neuen Elekroautos bei Verschrottung des alten Verbrenners steigert den Lebensstandard für die Bevölkerung überhaupt nicht, sondern liefert allenfalls einen sehr langfristigen Beitrag der Nachhaltigkeit zur Stabilisierung des Weltklimas - zu Gunsten künftiger Generationen, die erst Jahrzehnte später leben. Nur wenn wir Deutsche in den neuen Technologien zum Weltmarktführer werden, gibt es eine Chance, durch hohe Preise und Wertschöpfung unserer Produkte so hohe Einkommen zu erzielen, dass dann doch noch ein ordentliches reales Wachstum herauskommt - gewissermaßen zusätzlich zum Weg in die Nachhaltigkeit im eigenen Land. Das setzt aber voraus, dass wir hochinnovativ bleiben - und da sind Zweifel angebracht.
Diese Zweifel sind letztlich vor allem demografisch begründet: Deutschland altert und schrumpft, die Zahl der Erwerbspersonen nimmt drastisch ab, die riesige Generation der Babyboomer verlässt den Arbeitsmarkt. Überspitzt formuliert: Das Rückgrat der innovativen Ingenieurskunst der deutschen Industrie zerbricht. Natürlich nicht in einem Schlag, sondern gestreckt über rund zwei Jahrzehnte. Wir haben also noch etwas Zeit zur Anpassung, aber im historischen Maßstab nicht allzu viel. Jedenfalls müssen wir schnellstmöglich die Weichen richtig stellen.
Genau dafür liefert der Sachverständigenrat einen großen gedanklichen Werkzeugkasten. "Für eine neue Angebotspolitik!" So könnte man diesen Kasten nennen. Fast jedes Werkzeug daraus versucht, die deutsche Witschaft elastischer zu machen, d. h. wachstumshemmende Flaschenhälse aufzubrechen und neue Wachstumspotenziale zu erschließen, allen voran am Arbeitsmarkt. Als da zum Beispiel sind: späterer Renteneintritt, mehr Vollzeit- und weniger Teilzeitjobs vor allem für Frauen, mehr Absolventen und Berufseinsteiger in technische Berufe, eine neue Dimension der Zuwanderung von Fachkräften, Reduzierung der Rentenlast, mehr Anreize zur Aufnahme von Arbeit, eine leistungsfreundliche Reform der Einkommensbesteuerung, bessere Rahmenbedingungen für Risikokapital, Investitionen in die digitale Infrastruktur, Verbesserung der Bildung, etc., etc. All dies ist nicht wirklich neu. Aber die Dringlichkeit des politischen Handelns nimmt dramatisch zu - mit jedem Jahr der Stagnation, das den Befund der langfristigen Wachstumsschwäche an Stelle einer kurzfristigen Konjunkturdelle bestätigt.
Über viele der Einzelmaßnahmen, die der Sachverständigenrat vorschlägt, mag man akademisch und politisch streiten. Aber bitte nicht zu lange, die Zeit drängt. Eines jedenfalls ist klar: Die Richtung der Maßnahmen stimmt. Und es steht viel auf dem Spiel. Denn machen wir uns nichts vor: Wenn es Deutschland nicht gelingt, auf einen zumindest moderaten Wachstumspfad zurückzufinden, stehen überaus harte Zeiten der Verteilungskämpfe bevor. Denn ohne Wachstum stagnieren auch die Steuereinnahmen - und damit auch das Potenzial für jene politischen Flankierungen der Anpassung, die nötig sind, um möglichst alle Menschen mitzunehmen. Und wenn das nicht gelingt, zerbricht die Soziale Marktwirtschaft im Zuge einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaft. Das darf nicht sein.