Freiburger Thesen
50 Jahre Freiburger Thesen – Zwischen Modell und Mythos
Die späten 60er Jahre mit ihren Studentenprotesten und Unruhen, mit dem Ruf nach mehr Freiheit statt dem „Muff von 1.000 Jahren“, nach mehr Demokratie und weniger Bevormundung, nach mehr Gleichberechtigung statt patriarchalischer Borniertheit, sind heute Teil der bundesdeutschen Geschichte. Zum Teil sind sie auch zur Legende geworden, so wie die sogenannten „68er“, wie die Hippiekultur, wie Woodstock oder die „Kommune 1“. Der dynamische Wandel reichte aber über Kultur und Lebensstil hinaus; er ergriff in vielfältiger Weise die Arbeitswelt und Gesellschaft, weckte das Bedürfnis nach mehr Teilhabe, Mitbestimmung und politischer Partizipation. Viele der für uns heute selbstverständlichen Freiheiten sind damals grundgelegt worden. Der Protest gegen die „Notstandsgesetze“ vereinte die demokratisch Wachsamen, der Protest gegen den Vietnam-Krieg die Friedfertigen, der Kampf für mehr Frauenrechte die gesellschaftlich Fortschrittlichen. Ralf Dahrendorf propagierte „Bildung als Bürgerrecht“. Die F.D.P. öffnete sich für die sozialliberale Koalition und für den Weg des „Mehr Demokratie wagen!“.
Die Liberalen reagierten frühzeitig auf die Herausforderungen einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befand: In der Außen- und Deutschlandpolitik, in den Ordnungskonzepten der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in Bildung, Infrastruktur und Verwaltung diskutierten sie die Eckpunkte der notwendigen Modernisierung, was sich auch innerparteilich mit der neuen Spitze um Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher niederschlug. Man wollte „alte Zöpfe abschneiden“, wie es im Wahlkampf 1969 hieß, neuen gesellschaftlichen Strömungen Raum bieten und, neben mehr Demokratie, auch mehr Freiheit für immer mehr Menschen wagen. Der Weg zu einer neuen programmatischen Zukunftsbestimmung war geebnet. Dass es hier in besonderer Weise um einen offenenund kritischen Dialog mit allen Kräften in der Gesellschaft ging, machte schon der Titel der – von einer Kommission unter der Federführung des späteren Bundesinnenministers Werner Maihofer erarbeiteten – „Freiburger Thesen“ deutlich. Die Thesen zur „liberalen Gesellschaftspolitik“ stellten eine Kombination aus politischer Analyse, kritischer Diagnose und fortschrittsfreundlicher Prognose dar. Und sie luden zur konstruktiven Auseinandersetzung ein – mit großem Erfolg, denn über sie wurde nicht nur in den Medien gestritten, auch die Buchauflage erreichte mehr als 100.000 Exemplare.
Die Freiburger Thesen des Jahres 1971 wurden eines der populärsten Parteiprogramme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bis heute gilt der Freiburger Bundesparteitag vom Oktober 1971 für die Freien Demokraten als einer ihrer markantesten historischen Erinnerungsorte und als ein programmatischer Höhepunkt in der über 70-jährigen Parteigeschichte. Auch in den aktuellen Diskussionen ist „Freiburg“ nach wie vor präsent. Denn bei den berühmten Thesen handelt es sich um das wohl ambitionierteste Zukunftsmodell des Liberalismus nach 1945. Sie wirkten über Jahrzehnte hinweg als Inspiration und Zielorientierung für zahlreiche Liberale. Die darin enthaltenen Aspekte der Demokratisierung der Gesellschaft, der Reform des Kapitalismus, der Mitbestimmungs-, Eigentums-, Vermögens- und Umweltpolitik sind auch heute viel diskutierte Themenfelder.
Von heutiger Warte aus gesehen, atmen die Freiburger Thesen natürlich den Geist ihrer Zeit. Manche der Forderungen und Lösungen sind von der rauen Wirklichkeit überholt oder obsolet gemacht worden. Andere jedoch wiesen weit voraus und zeigen, mit welcher Klarheit Lösungen für immer dringlicher werdende Probleme entwickelt wurden; dies gilt für die Vermögensverteilung, aber besonders auch für die Umweltpolitik, in der das Verursacherprinzip verankert wurde – erstmals in einem deutschen Parteiprogramm. Mit ihrer manifesten Fortschrittsfreundlichkeit, mit dem in ihnen zum Ausdruck kommenden optimistisch-pragmatischen Grundtenor, mit ihrem wachen Blick auf gesellschaftliche Veränderungsnotwendigkeiten und mit ihren vernunftbasierten Lösungsansätzen sind sie ein zeitloses Dokument liberaler Geisteshaltung.
Manchmal wird von der einen oder anderen Seite mit Erstaunen, oder auch durchaus vorwurfsvoll angemerkt, damals sei die FDP ja „sozialliberal“ gewesen. Dabei hat sich das seit damals gar nicht verändert: Immer schon, und noch immer streben die Liberalen danach, ein politisches und gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, das allen Menschen die größten Lebenschancen (Dahrendorf) ermöglicht. Dazu gehört das Recht auf bestmögliche Bildung, das Recht auf möglichst gleichen Zugang zum beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg, die Sicherung größtmöglicher persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit, die Wahrung einer intakten Umwelt – insgesamt: das Recht auf Zukunft in Freiheit, Selbstbestimmung, Sicherheit und Wohlstand. Mehr „sozial“ geht nicht.