Wahlen
Bihar – Wahlen in Modis Machtbasis
Bihar wählt. Vielen Indern – vor allem natürlich Nicht-Biharis – läuft bei dem Gedanken an den Bundesstaat ein Schauer über den Rücken. Wenn es einen indischen Bundesstaat gibt, der nahezu keine positiven Assoziationen hervorruft, dann ist das Bihar. Wer an Bihar denkt, denkt an Armut, Korruption und Überbevölkerung. Tatsächlich sind die Vorurteile mit Blick auf die Daten nur schwer von der Hand zu weisen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag im Jahr 2018-19 bei 43.822 Rupien (etwa 500 Euro). Das ist der niedrigste Wert aller indischen Bundesstaaten, ein Drittel des nationalen Durchschnitts und nur etwa ein Zehntel des Wertes wohlhabender Bundesstaaten wie Goa oder Delhi.
In Bihar leben über 100 Mio. Menschen. Die Bevölkerungsdichte liegt bei über 1000 Einwohnern je km2. Der Flächenstaat ist damit etwa so dicht besiedelt wie Rostock, Saarbrücken oder Magdeburg. Die meisten Humanentwicklungsindikatoren zeichnen ein katastrophales Bild. Bihar hat die drittniedrigste Lebenserwartung unter den indischen Bundesstaaten, die höchste Geburtenziffer und die niedrigste Alphabetisierungsrate. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Nicht zuletzt ist Bihar bis heute für viele Inder synonym mit Lalu Prasad Yadav, früherer Ministerpräsident und Bundeseisenbahnminister. Yadav ist ein rhetorisch brillanter Politiker und strategisch geschickt. So nutzte er zum Beispiel immer wieder Kastenkonflikte im Bundesstaat, um seinen Einfluss zu erweitern. Er ist aber auch der Inbegriff von Korruption. In unzähligen Fällen angeklagt, ist er zweimal zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt 14 Jahren (sieben davon auf Bewährung) verurteilt worden, die er gegenwärtig absitzt. Nachdem er 1997 nach einem Korruptionsskandal zurücktreten musste, wurde seine Frau Rabri Devi Ministerpräsidentin. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei politische Erfahrung, sondern hatte sich als Hausfrau und Mutter um die neun gemeinsamen Kinder gekümmert, lesen und schreiben hatte sie nie gelernt.
Die Lage vor den Wahlen ist komplex. Der Posten des Ministerpräsidenten von Bihar wechselt seit den 1990er Jahren maßgeblich zwischen Lalu Prasad Yadav von der Rashtria Janata Dal (RJD) – bzw. seiner Frau Rabri Devi – und dem amtierenden Ministerpräsidenten Nitish Kumar von der Janata Dal (United) (JD(U)). Im Poker um die Macht hatte die JD(U) mehrmals die Koalitionspartner gewechselt. Mitten in der nun endenden Legislaturperiode zerbrach nach Korruptionsvorwürfen gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Tejashwi Yadav, Sohn von Lalu Prasad Yadav, eine Allianz aus JD(U), RJD und dem Indian National Congress (INC). Nur wenige Stunden nach dem Zusammenbruch der Koalition wurde Nitish Kumar mit den Stimmen von JD(U) und der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Modi erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.
Die Wahl in Bihar ist die erste seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Nicht nur wegen der Größe des Bundesstaates ist die Wahl ein wichtiger Test für die BJP. Die Partei kann sich ein schlechtes Abschneiden nicht leisten. Bihar liegt im Herzen des Hindi-sprechenden Nordindiens, dem Teil des Landes, der die Machtbasis der BJP bildet. Umfragen kurz vor der Wahl deuten auf einen Sieg von JD(U) und BJP hin. Das ist nicht überraschend. Nitish Kumar ist ein populärer Ministerpräsident, die Wirtschaft Bihars ist in seiner Amtszeit überdurchschnittlich gewachsen. Wahlumfragen sind in Indien jedoch notorisch unzuverlässig und die Corona-Krise hat den Bundesstaat stärker getroffen als andere. Millionen Arbeitsmigranten, die ihre Jobs in indischen Metropolen verloren haben, sind in den Bundesstaat zurückgekehrt, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Noch schneller als die Arbeitslosigkeit steigen die Zwiebelpreise, Symptom einer hohen Lebensmittelinflation.
Die Wahlen sind für die Sitzverteilung in der Rajya Sabha, dem Oberhaus des indischen Parlaments, von Bedeutung. Die Koalition um die BJP verfügt derzeit über 112 der insgesamt 245 Sitze. 16 Rajya-Sabha-Abgeordnete entfallen auf Bihar, von denen wiederum drei Sitze auf die BJP und fünf auf die JD(U) entfallen. Mit einem deutlichen Sieg in Bihar würde die BJP ihre Macht festigen und wäre bei Abstimmungen im Oberhaus auf weniger Stimmen aus anderen Lagern angewiesen. Indiens Abkehr von einer – wenn auch unvollkommenen – liberalen, säkularen, pluralistischen Demokratie hin zu einem politischen System charakteristisch für viele Länder Südasiens mit einer dominierenden politischen Kraft, deren Machtbasis eine ethno-religiöse Bevölkerungsmehrheit ist, würde sich auch in Bihar fortsetzen.