Großbritannien
Brexit: Die Luft ist raus
Die Luft ist raus. Dieser Satz beschreibt wohl am besten, wie es um das allgemeine Interesse am Brexit und den Zustand der britischen Opposition bestellt ist. Dabei fallen die wichtigen Entscheidungen erst jetzt.
Der britische Premierminister Boris Johnson konnte die wegweisende Unterhauswahlen im vergangenen Dezember klar für sich entscheiden und führte sein Land am 31. Januar aus der Europäischen Union. Der Brexit ist seitdem nicht mehr ein Schreckgespenst politischer Debatten, sondern eine Tatsache.
Das allgemeine Interesse am Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ist auf beiden Seiten des Ärmelkanals spürbar abgeflaut. Das gilt erst recht, seit die Coronavirus-Pandemie Europa erfasst und ob ihrer katastrophalen Folgen andere Ereignisse in ihren Schatten gestellt hat.
Dabei geht es jetzt erst so richtig um die Wurst, oder um es treffender zu sagen: um den Dorsch und das Chlorhühnchen.
Diese Woche treffen sich Vertreter der britischen Regierung und der Europäischen Kommission im Rahmen zahlreicher Videokonferenzen zu ihrer dritten Verhandlungsrunde. Es geht um die Gestaltung der zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union.
Wie immer, wenn es um den Brexit geht, tickt dabei die Uhr. Beide Seiten haben nur bis zum 31. Dezember 2020 Zeit, um sich auf ein umfassendes Abkommen über die zukünftigen Beziehungen zu einigen. Danach endet die so genannte Übergangsperiode und das Vereinigte Königreich fällt auf den Status eines Drittstaates zurück.
Güter, die den Ärmelkanal überqueren, müssten dann aufwendig geprüft und verzollt werden, britische Polizisten hätten keinen Zugang mehr zu europäischen Strafregisterauszügen, europäische Fischer hätten keinen Zugang mehr zu britischen Gewässern, die Zulassungen von Fluggesellschaften, Arzneien und Finanztransaktionen müssten neu verhandelt und erteilt werden. Kurzum: Vieles was zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union seit Jahrzehnten als selbstverständlich galt, würde ausgesetzt, unterbrochen oder verhindert, mit gravierenden Auswirkungen für Unternehmen und Bürger. Es ist das altbekannte no deal-Szenario, das auch jetzt wieder im Raum steht, solange es kein Abkommen über die zukünftigen Beziehungen gibt.
Um dieses Szenario abzuwenden, müssen beide Seiten ihre Differenzen in Rekordzeit überwinden. Diese liegen vor allem in drei der insgesamt elf Dossiers.
Die Europäische Kommission fordert, dass französische, belgische und dänische Fischer weiter in britischen Gewässern aktiv sein dürfen. Eine Forderung, die London bisher strikt ablehnt. Zweitens verlangt Brüssel, dass sich London auch in Zukunft für die Einhaltung europäischer Arbeitsschutz-, Lebensmittel- und Umweltstandards einsetzt. Die britische Seite befindet sich jedoch gleichzeitig in Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten und dürfte dort gezwungen sein, genau in diesen Feldern Zugeständnisse zu machen. Drittens möchte die britische Regierung weiter eng mit der Europäischen Union im Bereich Recht und Strafverfolgung kooperieren, aber nicht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes akzeptieren. Eine Forderung, die Brüssel wiederum nicht akzeptieren kann.
Um diese Differenzen zu überbrücken und für beide Seiten akzeptable Lösungen zu formulieren, fehlt es schlichtweg an der notwendigen Zeit. Schon im Juni, so sieht es das Austrittsabkommen vor, müsste über eine mögliche Verlängerung der Übergangsperiode entschieden werden. Eine solche Verlängerung hatte der EU-Chefunterhändler Michel Barnier bereits angeboten, verbunden mit dem Hinweis, dass die Corona-Krise Verzögerungen für die Verhandlungen und noch viel verheerenderer Verwerfungen für den Fall eines no-deals bedeute. Premierminister Boris Johnson und seine Regierung schließen eine Verlängerung jedoch vehement und kategorisch aus.
Diese Weigerung, eine Verlängerung auch nur in Betracht zu ziehen, sorgt in Brüssel und bei der britischen Opposition für Unverständnis. Der für Handel zuständige EU-Kommissar Phil Hogan vermutet hinter dieser Strategie kalkulierten Opportunismus: „Meiner Meinung nach wollen sie die Verhandlungen nicht bis ins Jahr 2021 hinauszögern, weil sie im Grunde genommen COVID-19 für alles verantwortlich machen können“.
In der Tat würden die Folgen des Brexits nach möglicherweise gescheiterten Verhandlungen in den allgemein verheerenden Konsequenzen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung untergehen. Eine Rezession im Bereich von 1 oder 2 Prozent, wie sie für einen no deal prognostiziert wurde, verblasst gegenüber einer aktuellen Prognose der Bank of England, die 2020 damit rechnet, dass die britische Wirtschaft um 14% schrumpfen könnte. Zynisch betrachtet ist dies eine einmalige Chance, die ökonomischen Folgen des ideologischen Projektes Brexit vollkommen zu verschleiern. Ironischerweise könnte die Corona-Krise einen No-Deal-Brexit daher noch wahrscheinlicher machen.
Die britische Opposition, wie zum Beispiel die liberale Abgeordnete Layla Moran, tritt lautstark für eine Verlängerung ein und appelliert dabei an die wirtschaftliche Vernunft der Regierung von Boris Johnson. Doch diese Appelle werden nicht fruchten. Denn wenn es Johnson und seiner Regierungsmannschaft um Pragmatismus und ökonomische Vernunft ginge, dann hätten sie sich für die pragmatischste und ökonomisch vernünftigste Lösung stark gemacht: den Verbleib ihres Landes in der EU. Sie kämpfen aber seit vier Jahren für das Gegenteil, für den Austritt aus und die maximale Unabhängigkeit von der Europäischen Union.
Großer Widerstand ist dabei kaum zu erwarten. Seit langem war kein britischer Premierminister mehr in einer so mächtigen Position. Die Widerständler in der eigenen Partei haben im Dezember größtenteils ihre Mandate verloren. Die Opposition sortiert sich neu, hat gerade neue Parteichefs gekürt (wie im Fall von Labour) oder hat dies in die Zukunft verschoben (wie im Fall der Liberal Democrats). Die Zivilgesellschaft hat nach dem Scheitern der Remain-Kampagne noch keine neue Mission gefunden und ist durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise sowieso in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt.
Der Europäischen Union, genauer gesagt den Verhandlungsführern und den Mitgliedsstaaten, bleibt in dieser Situation nichts anderes übrig, als weiter so geeint und transparent zu verhandeln wie während der vergangenen drei Jahre. Die Mitgliedsstaaten sollten auch unter dem Druck der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise der Versuchung widerstehen, ihre Interessen im bilateralen Dialog mit London zu verfolgen und so die Autorität der Kommission zu untergraben. Denn etwas Positives hat der Brexit immerhin: Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich und der Welt bewiesen, dass sie sehr wohl mit einer Stimme sprechen können, wenn es darauf ankommt.