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Großbritannien
Auf dem aufsteigenden Ast: Liberale Politik in Großbritannien vor den Nationalwahlen

LibDems
© picture alliance / empics | Ben Birchall

Innerhalb der nächsten 15 Monate geht es in Großbritannien erneut an die Wahlurnen, und die Chancen von Rishi Sunaks Konservativer Partei für eine fünfte Amtsperiode (nach den Wahlerfolgen von 2010, 2015, 2017 und 2019) stehen nicht gut. Aber wird deswegen Sir Keir Starmer's Labour Partei mit klarer Mehrheit gewinnen? Oder kann es sein, dass Labour eine Koalition mit der Schottischen Nationalpartei eingehen muss (die Kosten dafür: ein erneutes Referendum über die Schottische Unabhängigkeit) – oder auch mit den Liberaldemokraten (für den Preis der Einführung eines fairen Wahlsystems[1])?

2015 erlebten die Liberaldemokraten (LibDems) eine schwere Niederlage, nachdem sie vier Jahre lang in einer Koalition mit David Cameron’s Tories regiert hatten. Dies warf sie zurück auf Rang vier im britischen Parteisystem, mit weniger Parlamentssitzen als die schottischen Nationalisten. Befreit vom Koalitionspartner, leitete Cameron das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU ein, das Nick Clegg (Parteichef der LibDems 2007-2015) ihm zuvor verweigert hatte. Nun scheinen sie sich erholt zu haben.

Eine Partei im Aufschwung

Auf ihrem jüngsten Herbstparteitag vom 23.-26. September, nach einer langen Periode wiederkehrender Enttäuschungen, präsentierten sich die Liberaldemokraten als eine Partei, die sich im Aufschwung befindet. Ihre bisherigen 11 Parlamentssitze sind durch spektakuläre Lokalwahlsiege[2], bei denen sie die Tories überstimmten, auf 15 angewachsen. Eine weitere Lokalwahl steht im Oktober an. Unter Parteichef Sir Edward Davey, seinerzeit Staatsminister für Energie und Klima (2011-2015), stehen die Chancen hervorragend, dass die Partei ihre Sitze in Westminster bei den nächsten Nationalwahlen verdoppelt, und sich damit möglicherweise ihren Rang als drittstärkste Partei zurückholt. Die LibDems haben in der jüngeren Vergangenheit ein erstaunliches Händchen bewiesen, die Konservativen zu schlagen, insbesondere im Süden Englands, den so genannten „blue wall (Blaue Mauer)“[3]-Wahlkreisen, die die Labour-Partei nicht gewinnen kann.

Die Stimme der Vernunft

Das neue „Vorwahlprogramm“ der Liberaldemokraten, das beim Parteitag präsentiert wurde, enthält eine Agenda zur Erhöhung der Gesundheitsausgaben (inklusive einer Besteuerung für Soziale Medien zur Finanzierung psychischer Gesundheitsmaßnahmen), zur Sicherstellung des Verbleibs Großbritanniens im Europäischen Menschenrechtsabkommen (die Konservativen stellen diesen in Frage), und zur Wiederannäherung Großbritanniens an die EU mit dem langfristigen Ziel des Wiederbeitritts. Angesichts der in Großbritannien besonders schweren Krise der Lebenshaltungskosten nimmt die Partei von früheren Plänen über eine Erhöhung der Einkommensbesteuerung Abstand.

Zurück zu neuem Selbstbewusstsein

Im Jahr 2023 haben die LibDems bisher 3,8 Millionen Pfund an Spenden für die Finanzierung ihres Aufbauprozesses eingeworben, was eine gute Grundlage für die Erreichung der angestrebten Parlamentssitze darstellt. Diese Summe ist allerdings mit den Einnahmen der Labourpartei (12 Millionen Pfund) und der Konservativen (22 Millionen Pfund) zu vergleichen. Wie sich auch die deutschen liberalen Konferenzgäste Ulrich Lechte MdB, Sandra Weeser MdB und Thomas Hacker MdB überzeugen konnten, machen die LibDems rundum den Eindruck einer Partei, die sich neues Selbstbewusstsein zurückerkämpft hat.

Sir Graham Watson ist Mitglied der Liberaldemokraten und war 1994 bis 2014 deren Abgeordneter im Europäischen Parlament. Von 2002 bis 2009 war er Chef der Liberalen Fraktion im Europäischen Parlament, sowie Präsident der ALDE-Partei von 2001 bis 2015. 

[1] Das britische Wahlsystem beruht traditionell auf Mehrheitswahlrecht und bedarf dringender Reformen, da zahlreiche Wählerstimmen bereits in den Wahlkreisen verfallen. Es können sich somit Kandidaten durchsetzen, die in einzelnen Wahlkreisen, aber ggf. nicht im nationalen Durchschnitt mit einer absoluten Stimmenmehrheit abgeschnitten haben. Klassisch kam dieses System insbesondere den Konservativen und der Labour-Partei zugute, und benachteiligt kleinere Parteien disproportional, selbst wenn sie landesweit mehr Stimmen einholen

[2] Lokalwahlen finden in Großbritannien intervallartig und wahlkreisabhängig zwischen den Nationalwahlen statt.

[3] Blau ist traditionell die Farbe Konservativen Partei.