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Drittes Plenum
Chinas Experten uneins über Zukunft der Privatwirtschaft

Der chinesische Präsident Xi Jinping

Der chinesische Präsident Xi Jinping.

© picture alliance / Xinhua News Agency | Yao Dawei

Chinesische Experten diskutieren angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land die Zukunft der Privatwirtschaft. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Lager ausmachen: eines folgt der aktuellen Parteilinie und nimmt im öffentlichen Diskurs viel Raum ein. Ein anderes, einst gut etabliertes, aber inzwischen marginalisiertes Lager fordert marktwirtschaftlich orientierte Reformen.

Das nach langer Wartezeit nun bevorstehende Dritte Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, auf dem das Wirtschaftsprogramm für die nächsten fünf Jahre verkündet wird, ist ein guter Zeitpunkt, sich die anhaltende Debatte genauer anzusehen.

Die neuesten Quartalszahlen lassen ein etwas stabileres Wachstum im Vergleich zum durchwachsenen Vorjahr erkennen. Dennoch kämpft Chinas Wirtschaft mit Problemen. Dazu zählen die Krise auf dem Immobilienmarkt, die hohe Verschuldung der Lokalregierungen, das regionale Wohlstandsgefälle und der Rückgang von Investitionen in der Privatwirtschaft.

Die strauchelnde Privatwirtschaft ist Anlass zur Sorge für die chinesische Führung, da diese einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum, zu den Steuereinnahmen, zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und nicht zuletzt zur Innovation leistet. Das langsamere Wachstum seit der Corona-Pandemie hat Unternehmen wirtschaftlich zugesetzt.  Auch das Vertrauen privater Unternehmen wurde geschwächt – und das nicht erst seit dem chaotischen Ende der Null-Covid-Politik Ende 2022. Die KPC unter Xi Jinping räumte Staatsunternehmen Priorität ein, verstärkte die Regulierung und Kontrolle der Privatwirtschaft, ging gegen Tech-Firmen vor und verlangte von Unternehmen, „patriotisch“ zu sein und durch Spenden zur sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit beizutragen.

Im vergangenen Jahr ergriff die Regierung eine Reihe von Maßnahmen, um dem Privatsektor ihre Unterstützung zu signalisieren. Eine Ende März vom Beijing Dacheng Enterprise Research Institute (ein privates, nicht-kommerzielles Institut) durchgeführte Umfrage unter Privatunternehmen ergab jedoch, dass die bislang eingeleiteten Schritte das Vertrauen der Unternehmen nicht wiederhergestellt haben.

Als Grund für den Rückgang der Investitionstätigkeit im Privatsektor nannten 75 Prozent der befragten Unternehmen wirtschaftliche Schwierigkeiten und eine geringere Profitabilität. 69 Prozent betrachteten das fehlende Vertrauen in die künftige wirtschaftliche Entwicklung als ausschlaggebend. 39 Prozent sahen den Grund in einem unsichereren und riskanteren politischen Umfeld. 47 Prozent der Unternehmen nannten Überkapazitäten in manchen Industrien als Problem – ein umstrittenes Thema in Chinas Handelsbeziehungen insbesondere mit den USA und der EU. Eine Umfrage der Europäischen Handelskammer in China ergab, dass auch ausländische Unternehmen in China eine Verschlechterung des Geschäftsumfelds wahrnehmen. 

MERICS

Unterschiedliche Meinungen zu den besten Voraussetzungen für Wachstum

Ein genauerer Blick auf Expertendebatten zeigt, dass die Meinungen zu den notwendigen Voraussetzungen für Wachstum auseinandergehen, insbesondere wenn es um die Rolle des Privatsektors und dessen Bedeutung für Innovation geht.

Die Debatte findet in Chinas streng kontrollierter Medienlandschaft statt. Seit dem vergangenen Jahr werden kritische Analysen zur Lage der Wirtschaft zunehmend zensiert. Die chinesische Führung will nach eigenem Bekunden die „Steuerung der öffentlichen Meinung“ zum Thema Wirtschaft verbessern. Dennoch kann eine systematische Analyse der Positionen und Bewertungen chinesischer Experten Aufschluss geben über aktuelle Herausforderungen und die künftige Richtung von Chinas Wirtschaftspolitik.

Für diese Analyse wurden 30 Artikel herangezogen, die zwischen Januar und Mai 2024 im Diskussionsforum Aisixiang sowie in wirtschaftspolitisch liberal ausgerichteten Medien wie The Economic Observer oder Caixin veröffentlicht wurden. Zudem wurden ausgewählte, auf Wirtschaft spezialisierte, öffentliche WeChat Accounts untersucht. Auch wenn es sich nur um Stichproben handelt, lassen sich daraus Einblicke in aktuelle chinesische Debatten zum Thema gewinnen.

Parteinahe Experten setzen auf Synergien zwischen staatlichen und privaten Unternehmen

Beijing strebt ein neues Wachstumsmodell an, das auf Innovation und Hightech setzt. Experten, deren Ansichten die offizielle Politik der Partei widerspiegeln, sehen Synergien zwischen staatlichen und privaten Unternehmen und wollen das Innovationspotenzial des Privatsektors anzapfen, um nationale Entwicklungsziele zu erreichen.

Für Wang Song von der Zentralen Parteihochschule müssen der staatliche und der private Sektor zusammenarbeiten und sich auf ihre jeweiligen Rollen konzentrieren.  Während der staatliche Sektor in den Bereichen der strategisch wichtigen Industrien, nationale Sicherheit und öffentlichen Dienstleistungen gefördert werden sollte, müssten die Flexibilität und Effizienz des Privatsektors angekurbelt werden. Um Innovationsziele zu erreichen und „ein gutes Innovations-Ökosystem“ zu schaffen, schlägt Wang die Einrichtung von „kollaborativen Innovationskonsortien“ vor, in denen staatliche und private Unternehmen Hand in Hand mit Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten.

Laut Zhang Yaguang von der Peking Universität hat Chinas Wirtschaft die grundlegende Aufgabe, „die Hindernisse zu beseitigen, welche die Entwicklung der neuen Produktivkräfte blockieren“. Er räumt ein, dass die „Innovationsfähigkeit der Privatwirtschaft eine wichtige Rolle bei der Umwandlung und Modernisierung von Industrien und technologischen Durchbrüchen spielt.“ Private Unternehmer sollten unterstützt und ermutigt werden, sich an Regierungsprojekten zur Entwicklung neuer Produktivkräfte zu beteiligen, sagt Zhang. Allerdings nennt er keine konkreten Lösungswege, um den Zugang zu staatlicher Finanzierung und öffentlichen Projekten für nicht-staatliche Unternehmen zu verbessern.

Nach Yang Ruilong von der Renmin Universität sollten sich Staats- und Privatwirtschaft „gegenseitig fördern“ und gemischte Eigentumsverhältnisse begünstigt werden. Yang lehnt das durch jahrzehntelange Diskussionen geprägte Narrativ ab, nach dem sich staatliche Unternehmen auf dem Vormarsch befinden, der Privatsektor dagegen auf dem Rückzug (国进民退). Er spricht sich aus für ein gemeinsames Voranschreiten von Staats- und Privatsektor (国民共进). Yang ist der Ansicht, dass man sich „nicht ausschließlich auf den Marktmechanismus verlassen sollte“. Staatliche Unternehmen hätten „einzigartige Vorteile bei der Behebung von Marktversagen und beim Übergang zu einem neuen innovationsgetriebenen Wirtschaftsentwicklungsmodell“, da sie langfristige Ziele über kurzfristige Gewinne stellen und Arbeitsplätze erhalten können. Für Yang erfordert der globale Wettbewerb sogar „einen stärkeren, besseren und größeren staatlichen Kapitaleinsatz und staatliche Unternehmen“.

Einige, wie Lin Yifu von der Peking Universität, weisen darauf hin, dass „externe Faktoren“ wie die schwache Weltwirtschaft Kern der aktuellen wirtschaftlichen Probleme Chinas seien und nicht die Vorzugsbehandlung staatlicher Unternehmen und unzureichende Unterstützung des Privatsektors. Seiner Ansicht nach können staatliche Investitionen und eine proaktive Finanzpolitik dem Abwärtsdruck von außen entgegenwirken. So würde das Vertrauen der Unternehmer in die Regierungspolitik wiederhergestellt, und diese würden ermutigt, Investitionen und Innovationen zu intensivieren und so zum Wirtschaftswachstum beizutragen.

Marktwirtschaftlich orientierte Experten sehen Stärkung des Vertrauens der Privatunternehmer als entscheidend

Für die marktwirtschaftlich orientierten Experten ist das „geringe Vertrauen“ (信心不足) der privaten Unternehmer das entscheidende Problem. Ihre Lösungsvorschläge konzentrieren sich auf das für einen prosperierenden Privatsektor benötigte politische und wirtschaftliche Umfeld.

Laut Sun Liping, pensionierter Professor der Tsinghua Universität, schrecken Unternehmen wegen mangelndem Zukunftsvertrauen, Verschuldung und auch politischer und regulatorischer Unsicherheiten vor der Aufnahme von Krediten und vor Investitionen zurück. Das Hauptproblem liegt für ihn jedoch darin, dass Überangebote und ein daraus resultierender Unterbietungswettbewerb die Geschäftsaussichten der Unternehmer verringern. Vertrauen lasse sich nur durch eine Lösung dieses Problems wiederherstellen.

Für eine moderne Marktwirtschaft, die Innovation und Unternehmertum fördert, ist es „notwendig, politische, wirtschaftliche und rechtliche Aspekte zu beachten und sich auf marktorientierte Reformen zu stützen, die auf Rechtsstaatlichkeit und Internationalisierung beruhen“, argumentiert Wu Jinglian.  Als Verfechter liberaler Reformen fordert Wu die Implementierung einer Wettbewerbspolitik und das Angehen weiterer dringender wirtschaftlicher und politischer Probleme, um das Vertrauen in den privaten Sektor wiederherzustellen. Der 94-jährige Wu war in den 1980er und 1990er Jahren beim Staatsrat maßgeblich an der Gestaltung entscheidender Wirtschaftsreformen beteiligt. Bis heute bringt er sich aktiv in Debatten ein.

Auch für Chen Jian, Gastforscher bei der Chinesischen Gesellschaft für Wirtschaftsreformen, ist ein berechenbares politisches und rechtliches Umfeld von zentraler Bedeutung. Staatliche Macht dürfe nicht missbraucht, Politik müsse wirksam umgesetzt und die Rechte und Interessen von Unternehmen geschützt werden. Er fordert marktwirtschaftliche Bedingungen und einen fairen Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Unternehmen sowie ein günstigeres Umfeld für die öffentliche Meinung, in dem private Unternehmen nicht von Teilen der Gesellschaft für ihr vermeintliches Vermögen und mangelnden Patriotismus verurteilt werden.

Wang Xiaolu sieht politische Reformen hinter den wirtschaftlichen zurückbleiben. In den Augen des Forschers und Stellvertretenden Direktors des Nationalen Wirtschaftsforschungsinstituts, eines der wenigen noch einigermaßen unabhängigen Forschungsinstitute, haben Zweifel an der Richtung marktorientierter Reformen zu Unklarheit über den Status und die Rolle von Privatunternehmen geführt.

Die Politik entscheidet über den künftigen Weg von Chinas Wirtschaft

Die Debatten spiegeln verschiedene Vorstellungen über Chinas Wirtschaftssystem wider. Alle berühren die übergreifende Frage nach dem Verhältnis von Staat und Privatsektor. Ein Lager fordert stärkere Staatsunternehmen, welche die Stärken des Privatsektors integrieren. Die Verfechter dieser Haltung blenden aber aus, wie sehr staatliche Eingriffe die Situation und das Vertrauen des Privatsektors bereits geschädigt haben. Das andere Lager ist der Ansicht, dass Chinas starker Unternehmergeist nur in einem Markt wiederbelebt werden kann, der in einem berechenbaren politischen und rechtlichen Rahmen existiert.

Unter Xi hat die letztgenannte Position, die fast nur noch von einer älteren Generation von Experten vertreten wird, in politischen Kreisen und auf öffentlichen Foren an Geltung verloren. Und im Gegensatz zu den 2010er Jahren findet zumindest die öffentlich sichtbare Debatte stärker isoliert und nicht mehr im interaktiven Austausch und Wettstreit von Argumenten statt.

Auf dem bevorstehenden Dritten Plenum sollten Beobachter genau darauf achten, ob die Partei versuchen wird, staatliche Unternehmen und den Privatsektor weiter zu integrieren, oder ob sie substanzielle Schritte zur Wiederherstellung des Vertrauens des Privatsektors einleiten wird. Die derzeitigen Signale der Parteiführung deuten darauf hin, dass sie das Unvereinbare unter einen Hut bringen will: starke Staatsunternehmen mit modernen Organisationsstrukturen sowie ein dynamischer und robuster Privatsektor, wobei die Partei in beiden Bereichen den Ton angibt. Der Weg, den die KPC-Spitze vorgeben wird, ist nicht nur für die Bürger und die Wirtschaft Chinas entscheidend, sondern auch für ausländische Unternehmen, die in und mit der Volksrepublik Geschäfte machen.

Auch hat dies globale Auswirkungen: Die bereits hitzig geführte Debatte über chinesische Überkapazitäten im Fertigungssektor zeigt, wie wichtig es ist, inländisches Unternehmertum, Einkommensentwicklung und privaten Konsum wiederzubeleben. Sollte sich Beijing weiterhin auf staatlich gelenkte Industriepolitik und Exportwirtschaft fokussieren, ist davon auszugehen, dass der Handelsstreit mit den USA und der EU weiter an Schärfe gewinnen wird.

Christina Sadeler ist Senior Analyst bei MERICS.

Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
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