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Grundgesetz
30 Jahre Abschaffung §175: „Es war nicht selbstverständlich, dass es zur Aufhebung kam“

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über einen Tag deutscher Rechtsgeschichte und die gesellschaftliche Entwicklung seitdem.
Eine Regenbogenfahne ist während einer Aktion zum Internationalen Tag gegen Homophobie auf dem Rathausmarkt der Hansestadt Hamburg im Gegenlicht zu sehen.

Heute vor genau 30 Jahren trat am 11. Juni 1994 die Aufhebung des Paragraphen 175 offiziell in Kraft. 

© picture alliance/dpa | Gregor Fischer

Vor 30 Jahren trat die Abschaffung des Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches in Kraft, der einvernehmlichen Sex zwischen Männern unter Strafe stellte. Im Interview mit Radio Bremen Zwei spricht Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die damals federführende Bundesjustizministerin, über diesen historischen Tag und die gesellschaftliche Entwicklung seitdem.

Bremen Zwei: Jeder hat das Recht, zu lieben, wen er will, Hauptsache, beide sind glücklich. Welchem Geschlecht die Personen angehören, ist völlig egal. Das kann man heute in Deutschland sagen, klar. Aber das ist noch gar nicht so lange so. Denn bis vor genau 30 Jahren, also bis 1994, gab es den Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches. Dieser stellte einvernehmlichen Sex zwischen Männern unter Strafe. Der sogenannte "Schwulen-Paragraf" wurde eben erst vor genau 30 Jahren abgeschafft. Damals war Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP Bundesjustizministerin. Sie sprach damals im Bundestag von einem historischen Tag. Guten Morgen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen, Herr Grote.

Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Ist es immer noch historisch, wie Sie damals gesagt haben, oder gottlob heute normal?

Heute sagen über 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, dass es selbstverständlich ist, dass man wegen seiner geschlechtlichen Identität nicht diskriminiert werden darf. Vor wenigen Jahrzehnten war das noch ganz anders. Damals galt Homosexualität für viele nicht als normal, sondern als krank. Es wurde mit Strafe belegt, und das kann man sich heute kaum noch vorstellen, denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist auch der Ausdruck dafür, dass jeder seine Lebensweise und seine sexuelle Identität selbst bestimmen kann.

Wenn wir uns den damaligen Paragrafen genauer ansehen, frage ich mich immer: Dieser Paragraf war ausschließlich auf Unzucht zwischen Männern gemünzt. Warum eigentlich nur Männer?

Das hat historische Wurzeln. Männer waren entscheidend für die Fortpflanzung, und der Paragraf sollte den Schutz des deutschen Volkes und seiner Reinheit gewährleisten. Besonders in der nationalsozialistischen Zeit wurde dieser Paragraf noch stärker angewendet. Deshalb bezog er sich auf homosexuelle Beziehungen zwischen Männern und nicht auf lesbische.

Abschaffung Paragraph 175: „Wir hatten lange Zeit die öffentliche Stimmung gegen uns“

Das schwule Ehepaar, Bernd Göttling und Dieter Schmitz sitzt arm in arm in einem Strandkorb

Vor genau 30 Jahren endete die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller – unter der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Freiheit.org hat zu diesem Jubiläum mit ihr über den Paragraphen 175 und Homophobie gesprochen.

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Sie haben es gesagt, dieser Paragraf wurde zu Kaiserzeiten eingeführt und unter den Nazis noch einmal verschärft. Insgesamt gab es ihn 120 Jahre lang, das ist eine sehr lange Zeit.

Manchmal dauert es in einer Gesellschaft sehr lange, bis sich die Erkenntnis durchsetzt und der politische Wille da ist, solche Bestimmungen wirklich zu ändern beziehungsweise aufzuheben. Dass es vor 30 Jahren im Deutschen Bundestag zur Aufhebung kam, hat auch mit der deutschen Einheit zu tun. Die DDR kannte bis 1990 eine solche Bestimmung in dieser Form nicht. Es war also ein Stück deutscher Rechtsangleichung. Es war nicht selbstverständlich, dass es zur Aufhebung kam, sondern es bedurfte auch eines Anstoßes.

Es gibt die Magnus-Hirschfeld-Stiftung, die sich um die Aufarbeitung und finanzielle Entschädigung von Betroffenen kümmern soll. Wie erklären Sie sich, dass sich nur wenige Betroffene gemeldet haben, obwohl manche jahrelang im Gefängnis saßen?

Es ist sehr viel Zeit vergangen, und viele der Opfer, deren Existenz und Würde beschädigt oder teilweise vernichtet wurde, wollten nicht noch einmal in die Öffentlichkeit treten und ihre fürchterliche Geschichte erzählen. Deshalb ist die Frist verlängert worden. Das Archiv der anderen Erinnerungen, das durch die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld geschaffen wurde, will diesen Schicksalen Rechnung tragen. In meiner zweiten Amtsperiode als Ministerin habe ich initiiert, dass diese Stiftung überhaupt eingerichtet wurde. Sie besteht also noch nicht so lange wie die Abschaffung des Paragrafen 175.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung. Das Gespräch führte Tom Grote und lief erstmals am 11. Juni 2024 um 7:10 Uhr auf Radio Bremen Zwei.