Liberale Literatur
Anna Schneider: Freiheit beginnt beim Ich. Liebeserklärung an den Liberalismus.
Anna Schneider ist seit 2021 Chefreporterin bei der „Welt“. Dort hat sie sich bereits den Ruf erarbeitet, scharfzüngige Kritikerin eines politisch korrekten und anti-individualistischen Zeitgeistes zu sein.
Die gebürtige Österreicherin, die vorher bei der liberalen Schweizer „Neuen Zürcher Zeitung“ gearbeitet hatte, versteht es, zu provozieren. Das beginnt schon mit dem Titel ihres Buches „Freiheit beginnt beim Ich“, der noch einmal dadurch verstärkt wird, dass das „Ich“ mit dem in der offiziellen Rechtschreibung nicht vorgesehen Großbuchstaben „I“ beginnt.
Aber diese Emphase des „Ich“ wirkt möglicherweise nur im Kontext eines zunehmend illiberalen gesellschaftlichen Diskurses provokant, der den Selbstbestimmungswillen des Einzelnen unter Generalverdacht stellt oder gar für obsolet hält, wie der von ihr zitierte Robert Habeck, der meint: „Bestimmt zu werden, Entscheidungen nicht zu treffen, kann erleichternd sein“ (S. 30).
Dabei sei die Formel, dass Freiheit beim Ich beginne, letztlich „banal“ (S. 22). Und ehrlich gesagt, was sonst soll denn für einen Liberalen der Ausgangspunkt sein, wenn es um die Wahrung von Freiheitsrechten geht? Wer will, dass ihm alle Entscheidungen abgenommen werden, befindet sich bereits auf dem Weg zum Erziehungs- und Verbotsstaat (strikt durchdacht sogar auf dem Weg zum Totalitarismus). Dies erkennend, ist Schneiders Begriff von Freiheit eigentlich nur gesunder Menschenverstand: „Sie bedeutet, von niemand anderen abhängig zu sein oder bevormundet zu werden, niemandes Willkür zu unterliegen und Entscheidungen für sich selbst, nach den eigenen Vorlieben und Vorstellungen, treffen zu können. Freiheit ist Mündigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Und Offenheit.“ (S. 10) Zu den Denkern, die sie dabei inspirierten, gehören daher die liberalen Klassiker wie John Stuart Mill, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman.
Mit diesem Freiheitsbegriff gelingt es Schneider, das gegenwärtige politische Klima und die Rückkehr der „deutschen Kolllektivistenseele“ (S. 17) – vor allem, aber nicht nur durch die Grünen vorangetrieben – wirkungsvoll ins Visier zu nehmen. Es ist eben eine zeitgemäße und auch zeitkritische „Liebeserklärung an den Liberalismus!“ im Kontext aktueller Politik.
Ein wenig hart geht sie im letzten Kapitel mit der FDP ins Gericht, der sie vorwirft, nicht genügend an einem radikaleren Paradigmenwechsel zu arbeiten: „Es ist der FDP zu oft daran gelegen, lieb gehabt zu werden. So sehr, dass sie gar nicht merkt, dass nur wenige sie wirklich lieb haben wollen. Würde sie sich auf diejenigen konzentrieren, die ihre freiheitlichen Überzeugungen teilen, hätte sie in einem staatsgläubigen Land wie Deutschland zwar sicher nicht die Mehrheit hinter sich. Wohl aber eine solide Basis, für die man sich nicht verbiegen müsste“ (S. 96). So sehr diese Kritik nicht völlig von der Hand zu weisen ist, so sehr bedürfte das Verhältnis zwischen Ideologie und Realpolitik einer vielleicht dann doch komplexeren Analyse.
Damit sind wir bei dem Schwachpunkt dieses ansonsten überaus mitreißenden und erfrischenden Buches. Schneider bekennt offen, dass ideenhistorisch die populäre amerikanische Schriftstellerin Ayn Rand ihre hauptsächliche Inspirationsquelle sei, der sie ein ganzes Kapitel widmet. Sie ist für Schneider die „Freiheitsfanatikerin“ (S. 59) und Verfechterin eines „rationalen Egoismus“ (S. 61) schlechthin. Mit Rand kommt allerdings ein (vor allem in der Anhängerschaft verbreitetes) latentes Sektierertum zum Tragen, bei dem ein In-Group-Denken über eine ja durchaus vertretbare und sinnvolle philosophische Position sich so abschottet, dass auf abweichende Gedankengänge (von möglicherweise völlig normalen Menschen) kaum noch tragfähige Reaktionen formuliert werden können.
Richtig ist, dass Freiheit unabhängig von einzelnen politischen Problemlagen für jeden Liberalen eine philosophisch unumstößliche Grundposition sein muss. Aber die Kernfrage ist nicht, wie ich die Reinheit der Überzeugungen der bereits Überzeugten wahren kann, sondern wie man lebensnahe positive Angebote für diejenigen machen kann, die noch nicht so recht überzeugt sind. Da schwächelt das Buch ein wenig, das gerne in negativer Kritik verharrt. Die Forderung, die FDP möge prinzipientreu werden, ist zwar völlig richtig, ersetzt aber weder ein ordnungspolitisches, noch ein strategisches Denken, wie man sich in der realen Welt (die eben noch sehr liberalismuskritisch eingestellt ist) mit welchen Politikansätzen auch dauerhaft durchsetzen kann. Man wünschte sich also, Anna Schneider möge noch einen zweiten Band schreiben, in dem sie erklärt, welche konkreten positiven Schritte außerhalb des Prinzipiendenkens in einer eigenen „Blase“ langfristig strategisch unternommen werden sollten.
Das setzt immer noch die prinzipielle und fundamentale Freiheitsposition als Ausgangs- und Endpunkt voraus, die sie mit Verve in ihrem Buch präsentiert. Und mit dem Mut, sich nicht von den Falschen einschüchtern zu lassen, die ein klares und bei den großen philosophischen Klassikern verwurzeltes Freiheitsverständnis als „vulgärliberal“ diffamieren: „Es ist mir herzlich egal, ob jemand meinen Freiheitsbegriff als Vulgärliberalismus bezeichnet, lieber vulgär- als gar nicht liberal, denke ich mir dann“ (S. 17).
Lesen Sie hier die gesamte Literaturkritik 2/2023.