Brasilien: ein „Macho“-Land?
Alljährlich ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November Anlass, weltweit Strategien zum Schutz der Grundrechte und -freiheiten von Frauen zu thematisieren. Laut der UNO verfügt Brasilien mit dem im Jahr 2006 erlassenen Gesetz „Maria da Penha“ (Lei 11.340/06) über eine der drei besten Gesetzgebungen der Welt zur Bekämpfung häuslicher und familiärer Gewalt gegen Frauen. Dennoch gehört das Land noch immer zu den gewalttätigsten Ländern gegen Frauen der Welt. Es weist laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die fünfthöchste Frauenmordrate weltweit auf, hinter El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Russland. Eine erschütternde Bilanz, nachdem das Gesetz seit elf Jahren in Kraft ist.
Strukturelle Ursachen von Gewalt gegen Frauen
Patriarchalische Verhältnisse sind in Brasilien historisch tief verwurzelt und charakterisieren weitgehend die sozialen Strukturen des Landes. Ungeachtet der sozio-kulturellen Veränderungen und der nicht zu unterschätzenden Emanzipationserfolge in den letzten Jahren, bestimmt der strukturelle Männlichkeitswahn machismo zum Teil noch bis heute die überholten sozialen Rollenzuschreibungen, insbesondere in Familie und Beruf. Er ist der Nährboden, auf dem Frauenfeindlichkeit als ein Ausdruck ungleicher Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen gedeiht und zur systematischen Gewalt gegen Frauen führt.
Frauen wurden oft so behandelt, als wären sie das Eigentum ihrer Männer. Dadurch wurde ihnen die Möglichkeit auf Selbstbestimmung und Wahlfreiheit – insbesondere eine zwischenmenschliche Beziehung nicht zu beginnen oder zu beenden – genommen. In diesem Kontext galt die Gewalt im häuslichen Bereich lange Zeit als Privatsache und wurde kaum öffentlich thematisiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der Gewalt gegen Frauen in privaten Beziehungen gesellschaftlich hingenommen wurde, begünstigte eine hohe Straflosigkeit von Gewalttätern.
Viele Brasilianerinnen haben in der Vergangenheit aus Scham oder Angst vor Vergeltung auf Anzeigen gegen Gewalttäter verzichtet. Schuld an ihrem Schweigen waren vor allem die zuständigen Behörden, die in der Regel auf die Gewaltfälle nicht konsequent genug oder gar nicht reagierten oder von weiblichen Gewaltopfern nicht als vertrauenswürdig wahrgenommen wurden.
Das Gesetz Maria da Penha – ein Meilenstein
Vor dem Hintergrund des staatlichen Versagens bei der Verfolgung von Gewalttaten gegen Frauen wurde 2006 das Gesetz „Maria da Penha“ mit dem Ziel erlassen, Fälle von häuslicher Gewalt schneller ahnden zu können und den Schutz der Opfer zu garantieren. Es war die Reaktion des brasilianischen Staates auf den Druck internationaler Institutionen – insbesondere die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) – sowie auf die seit den 80er Jahren bestehenden Forderungen der Frauenbewegung für eine angemessenere nationale Sorgepflicht.
Das Gesetz wurde nach der Apothekerin Maria da Penha benannt, die jahrelang von ihrem Ehemann schwer misshandelt wurde und 1983 nach einem von mehreren Mordversuchen eine Querschnittslähmung erlitt. Achtzehn Jahre lang war der Prozess gegen ihren Ehemann in den juristischen Instanzen verschleppt worden, ohne ein endgültiges Urteil zu erzielen. Daraufhin hatte Maria da Penha 1998 den Fall bei der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte der OAS angezeigt. Im Jahr 2001 wurde der brasilianische Staat vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Untätigkeit verurteilt und darüber hinaus aufgefordert, konkrete Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen zu ergreifen, u.a. ein entsprechendes Gesetz zu erarbeiten.
Das brasilianische Gesetz, das umfassende Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von häuslicher Gewalt gegen Frauen sowie zum Schutz weiblicher Opfer beinhaltet, wurde von der UNO als vorbildlich gewürdigt. Erstmals wurde dadurch die häusliche Gewalt gegen Frauen in Brasilien sichtbar und nicht länger als Privatangelegenheit bzw. als minderschweres Vergehen eingestuft. Das Gesetz gilt als Meilenstein, da es die häusliche Gewalt gegen Frauen als eine Menschenrechtsverletzung anerkennt.
Besonders fortschrittlich an diesem Gesetz sind die schnelle Verhandlung von Gewaltfällen, die alleinige Zuständigkeit der Justiz und der Rechtsanspruch der Opfer auf sofortige Schutzmaßnahmen, wie z.B. die Unterbringung gewaltbetroffener Frauen und ihrer Kinder in offiziellen Betreuungsstellen, Wohnungsverweis für Täter mit Rückkehr- oder Annäherungsverbot und materielle Entschädigung bei Eigentumsverlust. Zudem hat das Gericht nach Einreichung einer Strafanzeige maximal 48 Stunden Zeit, um über Schutzmaßnahmen zu befinden. Eingereichte Anzeigen dürfen nur vor Richtern zurückgezogen werden – nicht mehr vor regionalen Polizeibeamten, die oftmals Druck auf die Frauen ausgeübt hatten, um Anzeigen zurückzuziehen oder Einigungen zuzustimmen.
Ferner investierte der brasilianische Staat in neue öffentliche Dienstleistungen zur Unterstützung von weiblichen Gewaltopfern. Dazu zählten u.a. die Einrichtung von psychologischen, sozialen und juristischen Betreuungszentren und Anlaufstellen für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder, wie z.B. die Frauenhäuser (Casa da Mulher Brasileira). Zudem wurden hilfeleistende Institutionen ausgebaut, wie z.B. die Einrichtung von speziellen Justizbehörden gegen häusliche Gewalt, die Ausweitung eines Netzes spezieller Polizeistationen für Frauen (Delegacias de Atendimento à Mulher) und die Einführung eines bundesweiten Notruftelefons (Central de Atendimento à Mulher - Ligue 180).
Durch das Gesetz „Maria da Penha“ wurden die unterschiedlichen Arten von häuslicher Gewalt gegen Frauen typisiert und definiert. Der Begriff der häuslichen bzw. familiären Gewalt gegen Frauen bezieht sich dabei auf jede Handlung oder Unterlassung, die zu Tod, Verletzung, körperlichem, sexuellem oder psychologischem Leiden, aber auch zu Sachbeschädigung führt. Diese kann sowohl im Haushalt bzw. in der Familie, als auch im Rahmen enger sozialer Beziehungen oder des Zusammenlebens vorkommen, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Positiv ist anzumerken, dass im Zusammenhang mit LGBTI-Rechten das Landesgericht von São Paulo das Gesetz „Maria da Penha“ bereits für Transsexuelle angewandt hat, die sich in ihrer Gender-Identität als Frauen definierten.
Das Gesetz sieht nicht nur harte Strafen, sondern auch Präventiv- und Schutzmaßnahmen vor. So dürfen Gewalttäter bspw. nicht mehr anstelle von Haftstrafen Busgelder oder Nahrungsmittelpakete bezahlen. Zudem ist es Richtern erlaubt, Untersuchungshaft anzuordnen, falls die körperliche und geistige Unversehrtheit der Frau in Gefahr ist sowie die Täter zur Teilnahme an Rehabilitations- und Umerziehungsprogrammen zu verpflichten. Die Höchststrafe für häusliche Gewalt gegen Frauen wurde auf drei Jahre Haft heraufgesetzt - zuvor war die Höchststrafe lediglich ein Jahr.
Wirkung des Gesetzes „Maria da Penha“
Es besteht landesweit Konsens darüber, dass das Gesetz „Maria da Penha“ im Kampf gegen häusliche Gewalt eine Reihe von positiven Veränderungen erzielt hat. Studien belegen, dass in den elf Jahren nach seinem Inkrafttreten die Zahl der Sondergerichte bzw. Gerichtsbezirke für häusliche Gewalt in Brasilien von fünf auf 114 gestiegen ist. Zudem gibt es für gewaltbetroffene Frauen aktuell 369 spezielle Polizeistationen und 131 Betreuungsstellen. Dennoch bleibt die Wirkung des Gesetzes in der Praxis umstritten. Obwohl die Anzahl der Strafanzeigen, erteilten Schutzmaßnahmen und laufenden Prozesse gestiegen sind, ist die Gewaltstatistik weiterhin erschreckend hoch.
Im Jahr 2016 wurden fast 83.000 Frauen in Frauenhäusern aufgenommen (im Durchschnitt 2.200 pro Monat), über 285.500 Schutzmaßnahmen für weibliche Gewaltopfer getroffen und 212.500 Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt gestellt. Das brasilienweite Notruftelefon (Ligue 180) zählte insgesamt 1,1 Mio. Beratungskontakte – 51% mehr im Vergleich zum Vorjahr, ein Negativrekord. Laut einer Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) ist aufgrund des Gesetzes „Maria da Penha“ die Frauenmordrate im häuslichen Bereich von 2006 bis 2011 um ca. 10% zurückgegangen. Das impliziert, dass tausende von häuslichen Gewalttaten verhindert werden konnten. Allerdings ist die Wirkung des Gesetzes landesweit nicht überall gleich. Schutzmaßnahmen für gewaltbetroffene Frauen variieren je nach Region im brasilianischen Föderalstaat stark.
Eine im Jahrbuch 2017 des Brasilianischen Forums für Öffentliche Sicherheit (Fórum Brasileiro de Segurança Pública – FBSP) in Kooperation mit dem renommierten Forschungsinstitut Datafolha veröffentliche Studie zeigt, dass Frauen in Brasilien immer noch mit einer sehr gewalttätigen Realität zu kämpfen haben. Im Jahr 2016 erfolgten landesweit 4.657 Frauenmorde, d.h. es wurden täglich 13 Frauen umgebracht. Stündlich wurden 503 Frauen körperlich angegriffen (ca. 4,4 Mio.).
Laut der Studie gaben ca. 29% der befragten Frauen an, im Jahr 2016 in irgendeiner Art Opfer von Gewalt gewesen zu sein. 22% von ihnen (ca. 12 Mio. Frauen) erlitten verbale Beleidigungen, 10% (ca. 5 Mio. Frauen) körperliche Gewalt und 8% (ca. 3,9 Mio. Frauen) sexuelle Beleidigung. Darüber hinaus wurden 4% (ca. 1,9 Mio. Frauen) mit Stich- oder Schusswaffen bedroht, 3% (ca. 1,4 Mio. Frauen) verprügelt oder Opfer von Erdrosselungsversuchen und 1% (ca. 257.000 Frauen) mit einer Schusswaffe verletzt. 61% der Frauen kannten die Gewalttäter (in einem Drittel der Fälle waren es aktuelle oder ehemalige Partner).
Zivilgesellschaft machte sich gegen die jüngste Gesetzesänderung stark
Vor kurzem ist das Gesetz „Maria da Penha“ erneut in die öffentliche Debatte geraten. Der brasilianische Kongress hatte für eine Überarbeitung gestimmt. Besonders kontrovers war die geplante Rückgabe der alleinigen Zuständigkeit der Gerichte für die Erteilung von Schutzmaßnahmen für die weiblichen Gewaltopfer an die Zivilpolizei. Auf Druck zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsorganisationen legte Präsident Michel Temer dagegen ein Veto ein. Frauenbewegungen zufolge wäre dies ein großer Rückschritt für den Schutz von Frauen gewesen, da es ihnen den Zugang zur Justiz erschwert hätte.
Schlussfolgerung
Die häusliche Gewalt gegen Frauen gehört zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, die allerdings erst seit dem Gesetz „Maria da Penha“ als solche anerkannt wird. Das wegweisende Gesetz bedeutet ein Paradigmenwechsel. Durch den erleichterten Zugang zur Justiz mit der Gewissheit, Schutz zu erfahren, sowie der Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen sind Frauen mutiger geworden, Gewalt gegen sie anzuzeigen.
Dennoch stehen der effektiven Durchsetzung des Gesetzes noch viele Hindernisse im Weg. Dazu gehören der Widerstand innerhalb der Justiz, das Gesetz auch auf der lokalen Ebene konsequent anzuwenden und das Fehlen einer Datenbank von Gewaltfällen. Darüber hinaus mangelt es an Kapazitäten, finanziellen Ressourcen und Qualifikationsangeboten in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Regelmäßige Schulungen von PolizistenInnen, RichterInnen und StaatsanwältInnen sind ebenfalls noch zu gewährleisten.
Auch wenn deutliche rechtliche und politische Fortschritte beim Schutz von Frauen festzustellen sind, besteht kulturell nach wie vor ein Defizit bei der Beseitigung des überholten patriarchalischen Denkmusters, das dem strukturellen Männlichkeitswahn (machismo) zugrunde liegt und letztendlich häufig zur Gewalt gegen Frauen führt. Die Sensibilisierung der brasilianischen Gesellschaft im Zuge von Aufklärung und Präventionsmaßnahmen muss daher als generationsübergreifende Aufgabe fortgeführt werden.
Der Liberalismus steht für individuelle Freiheit und Chancengleichheit. Die politische und öffentliche Debatte um die Freiheitsrechte von Frauen in Brasilien darf daher nicht dem linken Spektrum überlassen werden. Die Gleichstellung der Geschlechter ist ein liberales Anliegen. Dabei geht es nicht allein um die Unterstützung von Frauen im Kampf gegen häusliche Gewalt, sondern insbesondere um die Schaffung einer freiheitlichen Gesellschaft, in der die Bürger ihre Persönlichkeit frei entfalten können.
Beate Forbriger ist Projektleiterin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brasilien