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Brexit
Brexit Break

Im August ist Politpause: Zeit, um über die Zukunft nachzudenken. Die Lage ist kritisch – für beide Seiten.
Brexit-Symbolbild: Europa-Flagge und GB-Flagge vor dem Big Ben

Seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 herrschte in London eine Art exploratives Chaos.

© luaeva / iStock / Getty Images Plus / Getty Images

Der Juli 2018 wird in die Brexit-Geschichte als eine Zäsur eingehen: In den ersten 24 Monaten seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 herrschte in London eine Art exploratives Chaos. Selbst innerhalb der Regierung gab es weit auseinander liegende Positionen, ob der Brexit „hart“ oder „weich“ ausfallen sollte. Damit machte Theresa May bei dem Treffen in Chequers Schluss, und zwar mit ihrer Festlegung auf das Ziel eines sehr soften Brexit. „Hard Brexiteers“, allen voran Boris Johnson, verließen daraufhin die Regierung. Theresa May hat nun obendrein angekündigt, die Verhandlungen mit Brüssel als Premierministerin an sich zu ziehen und damit das formal zuständige Ministerium faktisch zu entmachten. Das ist der Startschuss für einen Showdown nach der Sommerpause – unter beachtlichem Zeitdruck. Unser stellv. Vorstandsvorsitzender Professor Paqué nutzt den sommerlichen „Brexit Break“, um das Spielfeld zu beleuchten. Hier sein erster Beitrag dazu. Er schaut auf das Grundsätzliche.   

Im Sport gibt es das nicht, wohl aber in der Brexit-Politik: ein Spiel, bei dem keiner wirklich gewinnen kann. Dabei liegt das Risiko für das Vereinigte Königreich offen zu Tage: England ist in den 45 Jahren der Mitgliedschaft zur Europäischen Union für Direktinvestitionen von außen zu einem bevorzugten Brückenkopf in der Europäischen Union geworden. Die Gründe dafür sind schnell aufgezählt: britische Weltoffenheit und englische Weltsprache, Dienstleistungsmetropole London und hervorragende Universitäten, liberale Regulierungen und Arbeitsmärkte sowie die enge Bindung an nordamerikanische Kultur und Zivilisation, aber gleichzeitig eben auch verlässliche europäische Normen, Standards und Werte. Buchstäblich „the best of all worlds“, jedenfalls für globales Business mit offenem Zugang zum europäischen Markt.

Allein die Möglichkeit, dies könnte verloren gehen, hat schon deutliche Spuren hinterlassen. Ein jüngster Bericht des IW Köln zeigt, dass die Direktinvestitionen ins Vereinigte Königreich drastisch eingebrochen sind: Im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2016 waren es noch 66 Mrd. US-Dollar, im Jahr 2017, das konjunkturell keineswegs schlecht ausfiel, gerade mal 15 Mrd. US-Dollar. Wohlgemerkt: Auf kurze und mittlere Sicht hat das keine gewaltigen Nachteile zur Folge, zumal die Arbeitslosigkeit niedrig, das Wachstum robust und die Inflationsraten noch immer moderat ausfallen. Langfristig deutet sich allerdings ein grundlegender Wandel an: Wer als Investor in Europa Fuß fassen will, wird sich andere bevorzugte Plätze suchen – vielleicht die Niederlande, Frankreich, Deutschland, Irland oder Schweden, je nachdem, um welche Branche es geht. Und in der Tat erlebten die meisten dieser Nationen 2017 einen deutlichen Zuwachs an Direktinvestitionen. Die Zeit des britischen Brückenkopfes könnte zu Ende sein, jedenfalls im Falle eines „Hard Brexit“.

Auf der europäischen Seite ist die Lage komplizierter: Manch voreiliger Beobachter könnte meinen, dass die Umlenkung der globalen Investitionsströme für den Kontinent beachtliche Vorteile hätte, vor allem im Feld der Dienstleistungen, bei denen zum Beispiel Deutschland traditionell hinterherhinkt. Dies wiederum ist zu kurz gegriffen, räumlich und zeitlich: Mag sein, dass so manches Bankhaus sein Geschäft von London nach Frankfurt oder Paris verlagert. Auf längere Zeit zählt aber der Finanzplatz Europa als Ganzes – im Standortwettbewerb mit den amerikanischen und ostasiatischen Zentren.

Die Zeit des britischen Brückenkopfes könnte zu Ende sein, jedenfalls im Falle eines „Hard Brexit“.

Stiftung für die Freiheit - Gaidar-Naumann-Forum Deutsch-Russische Beziehungen unter geänderten Vorzeichen – Wirtschaftskooperation in Zeiten von Sanktionen und neuen Allianzen
Karl-Heinz Paqué

Dies gilt generell: Wer die Welt aus der Vogelperspektive betrachtet, erkennt große wirtschaftliche Ballungen mit dichter Arbeitsteilung: in den USA und Kanada der Nordosten, der pazifische Westen und dazwischen die Anrainerstädte der großen Seen, in Ostasien die Regionen rund um das chinesische Meer mit China, Taiwan, Südkorea und Japan, und eben der Nordwesten Europas. Diesen auseinanderzureißen beschneidet die großen Entwicklungspotenziale von Ballungsräumen, die längst als Ganzes ihre historisch gewachsenen und hochproduktiven Plätze gefunden haben.

Was wirtschaftlich richtig ist, gilt umso mehr für die Politik. Zugegeben, das Vereinigte Königreich war nie ein enthusiastischer Partner in der EU. Und allzu oft wurde die britische Skepsis noch politisch durch schrille Töne verdeutlicht – wie etwa bei Margret Thatchers berühmten Haushalts-Notruf: „I want my money back!“ Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Großbritannien in vielen Bereichen der täglichen Koordination effizient und konstruktiv mitwirkte, und dies ohne lautes Wehklagen. Was etwa an stiller sicherheits- und außenpolitischer Koordination stattfand, war maßgeblich mitgeprägt vom britischen Gewicht einer ehemaligen Großmacht, die nicht nur in der NATO, sondern auch in der EU eine wichtige Stimme hatte und über exzellente Geheimdienste verfügt.

Hinzu kommt schließlich die kaum messbare weltanschauliche Strahlkraft des Vereinigten Königreichs. Drei große Traditionen kamen bisher in der EU zusammen: republikanischer Etatismus aus Frankreich, regelorientierte Rechtsstaatlichkeit aus Deutschland und liberaler Pragmatismus aus Großbritannien. Dabei wirkten alle drei weltanschaulichen Kraftlinien auch auf die verwandte Nachbarschaft: Frankreich auf Südeuropa und Belgien, Großbritannien auf Irland und Skandinavien, Deutschland auf Österreich sowie Mittel- und Osteuropa. Das Gewicht der Briten könnte nun fehlen, das subtile Gleichgewicht könnte Schaden nehmen.

Fazit: Großbritannien trotz Brexit möglichst eng an den Kontinent zu binden, das liegt im ureigenen Interesse der Europäer. Gelingen wird das nur durch fantasievolle Lösungen für beide Seiten, jenseits von "cherry picking" oder "business as usual". Eine gigantische Aufgabe für konzeptionelle Strategen und kluge Diplomaten. Dabei steht viel auf dem Spiel. Es wird ein heißer Herbst.