Sicherheitspolitik
Crunch Time: Zeit der Entscheidungen für Europas Verteidigung
Europa steht vor einer historischen Herausforderung: Die geopolitischen Spannungen häufen sich, die wirtschaftliche Lage bleibt angespannt, und politische Instabilität erschwert dringend benötigte Reformen in der Verteidigungspolitik. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat den Kontinent wachgerüttelt, doch die Schritte in Richtung einer kohärenten europäischen Sicherheitsstrategie bleiben zu zögerlich.
Ein geostrategischer Balanceakt
Die europäische Sicherheitslandschaft hat sich drastisch verändert. Die NATO bleibt das Fundament der kollektiven Verteidigung, territorialer Schutz und Abschreckung haben Priorität. Dennoch bleiben große Lücken bei militärischen Fähigkeiten und in der Verteidigungsindustrie. Lieferengpässe bei Munition und Luftverteidigungssystemen sowie veraltete Beschaffungspolitiken zeigen exemplarisch Europas Handlungsbedarf.
Angesichts der drängenden Herausforderungen und zur Schaffung eines differenzierten Bildes europäischer Verteidigungsfähigkeit wurde die Analysereihe EDINA – European Defence in a New Age fortgesetzt. Mit dem Ziel, mehr als 20 europäische Länder im Detail zu analysieren – von Bedrohungseinschätzungen über Beschaffungspraktiken bis hin zu industriellen Fähigkeiten. Diese umfassende Betrachtung liefert ein präzises Bild der europäischen Verteidigungslandschaft, das nicht nur zentrale Herausforderungen aufzeigt, sondern auch konkrete Ansatzpunkte zur Stärkung Europas identifiziert. Die vollständigen Ergebnisse und Einblicke sind in der Publikation verfügbar.
EDINA IV bietet fundierte Einblicke
Die Ergebnisse basieren auf Berichten aus über 20 europäischen Ländern, darunter Deutschland, Frankreich, Litauen, Polen, Schweden und Großbritannien. Diese bewerten die geostrategische Landschaft, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie industrielle Fähigkeiten. Die Erkenntnisse sind in der Kurzpublikation EDINA IV – CRUNCH TIME / TIME CRUNCH FOR EUROPEAN DEFENCE zusammengefasst und bieten eine umfassende Analyse der Herausforderungen und Chancen für Europas Verteidigung.
Phasen des Wandels: Von der Reaktion zur „Crunch Time“
Seit der Annexion der Krim durch Russland (2014) durchläuft Europa verschiedene Etappen der Neuaufstellung seiner Verteidigung. Jetzt steht Europa vor der entscheidenden Phase, in der richtungsweisende Entscheidungen unter Zeitdruck zu treffen sind.
- 2014–2016: Erste Reaktionen
Multinationale Battlegroups und die NATO-Präsenz in Osteuropa waren erste Schritte, blieben jedoch begrenzt. - 2017–2021: Strategische Autonomie
Der Druck der Trump-Regierung auf Europa, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, führte zu Initiativen wie PESCO und dem Europäischen Verteidigungsfonds – mit überschaubarem Erfolg. - 2022–2024: Zeitenwende
Russlands Großangriff auf die Ukraine leitete eine beschleunigte Aufrüstung ein. Der Fokus liegt nun auf Nachhaltigkeit und der Sicherung von Munitionsvorräten. - 2025–2030: Crunch Time
Die entscheidende Phase: Innenpolitische Instabilitäten in Schlüsselstaaten wie Frankreich und Deutschland treffen auf eine potenziell veränderte US-Politik. Europa muss nachhaltige Verteidigungsfähigkeiten aufbauen und seine strategische Abhängigkeit von den USA verringern. - Ab 2030: Strategische Konsolidierung
Langfristig geht es darum, Strukturen zu konsolidieren und eine kohärente, eigenständige Verteidigungsstrategie zu etablieren.
Europas Sicherheitswende: Herausforderungen, Versäumnisse und Handlungsdruck
Der Krieg in der Ukraine hat Europas Bedrohungswahrnehmung vereinheitlicht und die Aufrüstung beschleunigt. Dennoch zeigen sich regionale Unterschiede in der Einschätzung der Dringlichkeit. Eine weitere Erkenntnis: Europa hinkt bei der Entwicklung eines „Total Defence“-Ansatzes hinterher – ein Konzept, das militärische, wirtschaftliche und zivile Komponenten integriert. Länder wie Schweden und Finnland oder das Baltikum machen es vor, doch viele EU-Staaten bleiben dahinter noch zurück. Hinzu kommt, dass geopolitische Risiken außerhalb Europas, wie etwa im Nahen Osten, oft unterschätzt werden.
Der Druck wächst: Die NATO warnt vor einer realistischen Gefahr russischer Aggression. Bis 2030 muss Europa in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Kritische Entscheidungen – etwa zu industriellen Kapazitäten, technologischen Investitionen und strategischen Partnerschaften – können nicht länger aufgeschoben werden.
Der Weg nach vorn
Europa hat die Chance, aus der „Crunch Time“ gestärkt hervorzugehen. Dies erfordert Pragmatismus und stärkere multilaterale Zusammenarbeit, die Priorisierung des Ausbaus der Verteidigungsproduktion und strategischer Eigenständigkeit. Die EU muss ihre Abhängigkeit von externen Akteuren wie den USA reduzieren.
Ohne entschlossenes Handeln droht Europa, seine strategische Relevanz zu verlieren – ein Risiko, das Gegner ausnutzen könnten. Doch die Chance, eine kohärentere und stärkere Sicherheitsstrategie zu etablieren, ist greifbar. Die Zeit drängt.
Ausblick
- Europa muss sich auf existenzielle Krisen konzentrieren, insbesondere in Osteuropa und dem Nahen Osten, wo Konflikte in Syrien, Iran oder Israel die Fokussierung auf die Ukraine gefährden könnten. Diese Regionen erfordern eine strategisch vernetzte Betrachtung, da hier Interessen von USA, China, Russland und Iran kollidieren.
- Die Unterstützung der Ukraine bleibt zentral. Langfristige Hilfe, der Ausbau europäischer Verteidigungsindustrien und gezielte Kooperation mit der US-Industrie sind entscheidend, um Fähigkeitslücken zu schließen und die Ukraine nachhaltig zu unterstützen.
- Eine klare Aufgabenverteilung zwischen EU, NATO und Nationalstaaten ist essenziell. Während die NATO militärische Vorgaben definiert, sollte die EU ihre Strukturen darauf abstimmen. Flexible Ansätze wie ESSI (European Sky Shield Initiative) und ELSA (European Long-Range Strike Approach) zeigen, dass pragmatische Zusammenarbeit effektiver ist als langwierige Planungen.
- Europa muss besser auf externe Schocks und Veränderungen in der US-Politik vorbereitet sein. Eine faire Lastenteilung auf Basis messbarer Ergebnisse kann interne Konflikte vermeiden. Priorität haben Raketenabwehr, sogenannte Deep Strike- Fähigkeit und die dafür nötige Infrastruktur – Projekte wie ESSI oder Twister bieten hier vielversprechende Ansätze.
- Die Europäische Kommission sollte die künstliche Fragmentierung im Verteidigungssektor überwinden, z. B. durch die Harmonisierung von rechtlichen und industriellen Rahmenbedingungen. Das derzeitige Modell, das wichtige Industrieländer wie Norwegen, das Vereinigte Königreich und die Türkei ausschließt, ist ineffizient. Ein zehnjähriges Moratorium könnte es ermöglichen, alle NATO-Länder industriell gleichzustellen, Märkte zu erweitern, Wettbewerb zu fördern und EU-Standards besser durchzusetzen. Ohne Anpassungen droht das bestehende Rahmenwerk umgangen zu werden. Eine breitere Einbindung würde Europas Sicherheit stärken und institutionelle Fragmentierung reduzieren.