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Sicherheitspolitik
Carlo Masalas Gedankenspiel: Was Deutschland daraus lernen muss

Litauen-Bundeswehrbrigade

Die Bundeswehr-Brigade in Litauen zum verstärkten Schutz der Nato-Ostflanke 

© picture alliance/dpa | Alexander Welscher

Carlo Masala beschreibt in seinem Szenario „Wenn Russland gewinnt“ den nächsten logischen Schritt im „Delete_NATO“-Playbook Russlands: Mit einem Angriff auf NATO-Gebiet testet der Herrscher des Kremls das Bündnisversprechen. Werden die NATO-Mitglieder ihrem angegriffenen Partner zur Hilfe eilen und nach Artikel 5 den Bündnisfall erklären? Es geht um mehr als Paragrafen: Es geht darum, ob die transatlantischen Gesellschaften bereit sind, ihre Art zu leben zu verteidigen, wenn sie gewaltsam angegriffen werden.

Europa, im Frühjahr 2025. Die USA haben sich weitgehend aus der Unterstützung der Ukraine zurückgezogen, die Europäer können die Ausfälle militärisch nicht kompensieren. Innenpolitisch geraten sie zudem unter den Druck rechter und linker Populisten, die mit der Ablehnung der Ukraineunterstützung erfolgreich in Wahlen ziehen. Schließlich muss Selenskyj in Genf einen „Frieden“ mit den Russen unterzeichnen. Die Sicherheitsgarantien für die Ukraine bleiben wachsweich, der Großteil der Öffentlichkeit Europas sieht nur erleichtert, dass der Krieg vorbei ist. Der US-Präsident erklärt, die Nachkriegsordnung sei die Sache Europas.

Moskau nutzt das Momentum

Währenddessen tritt in Moskau, im Gefühl des Triumphes, Putin zurück. Die Szene betritt ein junger Präsident, westlich ausgebildet, moderat und smart im Ton. Im Westen wähnt sich mancher schon wieder an der Schwelle zu einer neuen Gorbi-Mania, Tauwetter-Hoffnungen blühen. Derweil wird die Ukraine von heftigen innenpolitischen Krisen geschüttelt, alte Konflikte brechen auf, Moskau destabilisiert nach FSB-Lehrbuch und am Ende verliert Selenskyj eilig angesetzte Neuwahlen. Das Land versinkt in bleiernem Chaos.

Europa verfällt ins Phlegma der Vorkriegszeit

In Europa folgt auf den Genfer Friedensschluss einmal mehr die Friedensillusion. In den zentralen Hauptstädten des Kontinents kehrt das Phlegma der Vorkriegszeit zurück. Russland sei ja nun massiv geschwächt, konventionell ohnehin unterlegen und dem neuen Mann im Kreml müsse man jetzt erstmal eine Chance geben. Die notwendigen Stärkungen der Verteidigungsfähigkeit Europas bleiben Lippenbekenntnisse. Die Mahnungen der Balten und Mittel- und Osteuropas verhallen einmal mehr ungehört. Unterdessen plant der neue Herrscher in Moskau die nächste Stufe des russischen Neo-Imperialismus. Er nimmt Anleihe an Hitlers Taktik der Remilitarisierung des Rheinlandes 1936: ein klar begrenztes, emotional verbundenes Territorium besetzten, Flagge zeigen und gleichzeitig den Einsatz rhetorisch einhegen. Immer bereit zum schnellen Rückzug, wenn der Feind Gegenwehr zeigt.

Russland greift an – die NATO zerfällt

Und so nehmen im März 2028 russische Truppen ebenso schnell wie überraschend die überwiegend russischsprachige Grenzstadt Narwa in Estland ein. Zeitgleich wird eine operativ wichtige Insel vor Estland besetzt. Die schnelle Nachführung von NATO-Truppen Richtung Baltikum ist so blockiert. Dem russischen Überfall sind gezielte Ablenkungsmanöver in Afrika und Asien vorausgegangen, die die Konzentration der westlichen Allianz erfolgreich zerstreut haben. So sind die Bündnispartner überrascht und wägen hastig ihre Optionen. Nach Stunden intensiver Konsultationen auf Botschafter-  und Ministerebene, Geheimgesprächen zwischen Russland und den USA, einer weiteren russischen Machtdemonstration, geschieht was nicht geschehen darf aber geschehen kann: Der NATO-Rat ist nicht in der Lage, sich auf seiner Sitzung in Brüssel auf die Feststellung von Artikel 5 zu einigen. Der US-Präsident will für eine estnische Stadt nicht den 3. Weltkrieg riskieren, die europäischen Verbündeten sind gespalten und haben überdies nicht die Mittel, mit Aussicht auf Erfolg allein zu handeln. Die NATO ist am Ende, Russland hat gewonnen. Die Tür für jede beliebige Erpressung Europas ist endgültig geöffnet.

Damit Russland verliert

Masala schreibt ein Szenario, dessen packende Story von der Glaubwürdigkeit ihrer Entwicklung lebt. So könnte es tatsächlich kommen, denkt der Leser auf jeder Seite. Die Lektüre ist ebenso beklemmend wie lehrreich. Aber Masala belässt es nicht bei der szenarischen Dystopie. Auf den letzten knapp 20 Seiten nimmt er seine Leserschaft mit in ein präzises „Was jetzt zu tun ist“.

Die Klarheit kommt mit schmerzhaften Botschaften:

  1. Europa braucht eine gemeinsame Strategie gegenüber der Bedrohung durch Russland.
  2. Europa darf sich von den ständigen nuklearen Drohungen des Kreml-Herrschers nicht einschüchtern lassen.
  3. Europa muss vor allem der Ermattung in der Bevölkerung entgegenwirken.

Damit dies gelingen kann, muss politische Führung ihrer (Wahl-)Bevölkerung deutlich machen, was auf dem Spiel steht: Europa kann eben nicht darauf setzen, dass Moskau von seinen revisionistischen Plänen ablässt und plötzlich einen echten Frieden will, der auf Stabilität und Ausgleich setzt, so Masala.

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Deutschland muss wieder resilient werden

Masala verdeutlicht, wie dringend die Europäer die militärischen Fähigkeiten zur glaubwürdigen Abschreckung brauchen, die ihnen heute fehlen. Europa muss eine neue Widerstandsfähigkeit erwerben, davon ist auch der Autor dieser Rezension überzeugt. Das kostet viel Geld und wird innenpolitische Präferenzverschiebungen bei der Nutzung öffentlicher Ressourcen erfordern, die weh tun. Aber es geht eben nicht nur um Geld. Es sind nicht Budgets und Militärgerät, die abschrecken. Es ist die Bereitschaft der Bevölkerung, jeder an seinem Platz, jede in ihrer Funktion, Einsatz zu zeigen bei der Verteidigung der eigenen Werte, der Art wie wir leben wollen. Die Balten, Skandinavier und viele Mittel- und Osteuropäer wissen das, sie zeigen eine klare Haltung und investieren in ihre Resilienz. Wenn Europa hier insgesamt nicht auf einen gemeinsamen Weg kommt, dann kann Russland die Spaltung gelingen. Ohne Deutschland, Frankreich und Großbritannien wird Europa die wirksame Abschreckung nicht aufbauen. Die (west-)deutsche Bevölkerung war während des Kalten Kriegs schon einmal in der Lage, ihren Beitrag zu leisten. Es kann also wieder gelingen.

Carlo Masala zeigt in seinem kompakten Band aufrüttelnd, worum es geht und was zu tun ist. Das Buch gehört nicht nur in die öffentliche Debatte, sondern in den Schulunterricht. Wer sichergehen will, dass diese eindringliche Argumentation für die Sicherung unserer Freiheit und unserer Demokratie breites Gehör findet, sollte das Buch lesen und zwei Stunden später weiterreichen. Länger braucht man nicht für die Lektüre und so lässt sich leicht ein echter Beitrag zum Aufbau von Resilienz leisten.

EDINA IV - Crunch Time / Time Crunch For European Defence

EDINA IV - Crunch Time / Time Crunch For European Defence

EDINA IV – Crunch Time: Europas Weg zu einer neuen Verteidigungsarchitektur. Die Publikation EDINA IV – Crunch Time analysiert die drängenden Herausforderungen, vor denen Europa in einer Zeit geopolitischer Spannungen und wirtschaftlicher Unsicherheiten steht. Basierend auf Berichten aus über 20 europäischen Ländern untersucht EDINA IV umfassend die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie industrielle Fähigkeiten des Kontinents. Die Publikation beleuchtet die strategische Neuausrichtung Europas, die Notwendigkeit nachhaltiger Verteidigungsfähigkeiten und die Überwindung von Abhängigkeiten. Sie bietet fundierte Einblicke in zentrale Themen wie Munitionsknappheit, Lieferkettenprobleme und die Rolle multilateraler Kooperationen. Mit klaren Handlungsempfehlungen zeigt EDINA IV Wege auf, wie Europa in der entscheidenden Phase bis 2030 seine Sicherheitsarchitektur stärken kann.

EDINA IV – Crunch Time: Europe’s Path to a New Defence Architecture. The publication EDINA IV – Crunch Time examines the pressing challenges facing Europe amid geopolitical tensions and economic uncertainty. Drawing on reports from over 20 European countries, EDINA IV provides a comprehensive analysis of the continent's security and defense policies as well as industrial capabilities. The publication highlights Europe’s strategic realignment, the urgent need for sustainable defense capacities, and the reduction of dependencies. It addresses critical issues such as ammunition shortages, supply chain disruptions, and the importance of multilateral cooperation. Offering clear recommendations, EDINA IV outlines how Europe can strengthen its security architecture during this pivotal phase leading up to 2030.

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