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Leistungsprinzip in Deutschland
Dabei sein ist alles? Wie der Leistungsgedanke auf der Strecke bleibt

Ein Blick in unsere Schulen zeigt, dass der Leistungsanspruch schon dort verwässert wird.

Ein Blick in unsere Schulen zeigt, dass der Leistungsanspruch schon dort verwässert wird.

© picture alliance / photothek | Michael Gottschalk

Nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele von Paris war die Ernüchterung in Deutschland, vor allem aber beim Deutschen Olympischen Sportbund, groß. Zwar zeigten die deutschen Athletinnen und Athleten bisweilen packende Leistungen, und auch die angestrebte Platzierung im Nationenvergleich unter den Top 10 ist geglückt. Dennoch gilt: Man hatte sich mehr erhofft, auch ein paar Medaillen mehr. Zudem manifestierte die Medaillenausbeute einen Negativtrend, der seit den starken 1990er-Jahren anhält. Natürlich waren damals durch das Zusammenwachsen von BRD und DDR noch andere Synergien zu heben. In diesem Jahr mussten die Athletinnen und Athleten aus dem geeinten Deutschland in den meisten Disziplinen aus der Ferne ihren Kolleginnen und Kollegen aus anderen, oftmals in früheren Zeiten weit weniger erfolgreichen Nationen beim Jubeln zusehen. Eine Trendwende ist vorerst nicht abzusehen.

In der Nachbetrachtung wird nun viel über marode Sportanlagen, ausbleibende Angebote in der Fläche, zu wenig Spitzensportförderung oder die zu großen Hürden zur Ausübung des jeweiligen Sports, etwa durch unflexible Schließzeiten, gesprochen. Diese Aspekte sind zwar alle richtig, und durch sie werden ganz sicher bestehende Probleme vergrößert. Doch eine maßgebliche Ursache muss auch im gezielten Herausdrängen des Leistungsaspektes in der (Schul-)Erziehung gesehen werden.

Noteninflation ist Realität

Dieses Herausdrängen des Leistungsgedankens aus dem schulischen Bereich ist allenthalben zu konstatieren. Die Diskussionen um das Abschaffen der Schulnoten oder des „Sitzenbleibens“ sowie die Herausnahme der Messung von sportlichen Leistungen bei den Bundesjugendspielen, sprechen für sich. Es scheint fast so, als wäre die Erbringung exzellenter Leistungen etwas, das aberzogen gehört. Und auch die wichtige Erfahrung, mal etwas nicht zu schaffen, wird durch die Nivellierung genommen. Mittelmaß und Gleichmacherei ersetzen das Streben zur Spitze.

Dass die deutschen Abschlussjahrgänge immer wieder noch bessere Noten hervorbringen, ist dabei nur eine veränderte Form dieses Aspekts. Die Noteninflation ist Realität. Allein im Vergleichszeitraum zwischen 2007 und 2017 ist eine 70%ige Steigerung bei den 1,0-Abschlüssen zu verzeichnen. Die Corona-Effekte sind hier noch nicht miterfasst.

Und hinzu kommt auch ein weiterer Punkt: Wenn sich Lehrerinnen und Lehrer schulintern und auch nach außen dafür rechtfertigen müssen, dass sie zu viele schlechte Noten in den Klassen verteilen, zeigt es mit der Zeit Wirkung. Die Notenskalen verschieben sich nach oben. Positiver Nebeneffekt: Schulleiter und Landespolitik können sich mit immer exzellenteren Abschlussjahrgängen brüsten. Dies ist aber eine Verzerrung der Realität, die spätestens bei internationalen Vergleichen (siehe Pisa) auf den Boden der Tatsachen geholt wird. Negative Wirkung: Die objektive Leistungsfähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler lässt sich anhand der Durchschnittsnoten immer weniger realistisch einschätzen. Da wird dann eine Benotung quasi im Zeitablauf unnötig – wohl ganz im Sinne mancher politischer Kreise. Beispielhaft stehe hier eine Forderung aus dem aktuellen Landtagswahlprogramm von Bündnis 90 / Die Grünen Brandenburg: Sie wollen „Schulen die Möglichkeit geben, dass sie in Zukunft bis einschließlich Jahrgangsstufe 8 auf Ziffernnoten verzichten können. Wo sie noch nötig sind, sollen Zensuren im Ermessen der Lehrkraft wohlwollend sowie nachvollziehbar und transparent vergeben werden.“

Leistungsvergleich sind dem Menschen mitgegeben

Citius, altius, fortius - schneller, höher, stärker (häufig im Sprachgebrauch als „weiter“ übersetzt) - ist das Motto der Olympischen Spiele der Neuzeit. 2021 erfuhr dieses Motto eine Ergänzung: Communiter – gemeinsam – sollte das individuelle Streben etwas mehr einhegen. Ein für den Mannschaftssport sicherlich guter Aspekt und auch für den fairen Wettbewerb unter den Athleten. Aber der Ansporn zur Leistung muss dennoch aus sich selbst heraus gewonnen werden.

Kinder wollen sich von früh an miteinander messen. Wer kann schneller laufen? Wer kann schon Buchstaben lesen, und wer kann im Sommer die Kirschkerne am weitesten spucken? Wettbewerb und Leistungsvergleich sind dem Menschen mitgegeben. Aus dieser Motivation kann eine positive Kraft gezogen werden. Auch die Erfahrung des Verfehlens von Zielen, die Erfahrung des Wiederaufstehens nach einem Scheitern und ggf. die Neuorientierung gehören zur Lebenstüchtigkeit dazu.

Natürlich ist es der bequemere Weg für alle Beteiligten, wenn jede Teilnahme belohnt wird und es „nach unten“ keine Enttäuschungen gibt. Obwohl so nie geäußert, wird der Ausspruch „Dabei sein ist alles“ auch als olympischer Gedanke proklamiert. Dieser Weg der Bequemlichkeit mag eine gewisse Zeit tragen, schadet aber langfristig mehr, als dass er nützt – individuell und gesellschaftlich.

Leistung muss entsprechend belohnt werden

So wie es im Sport unterschiedliche Arten und Wettbewerbe gibt, die den Neigungen und Fähigkeiten der Athleten entsprechen, so gibt es auch im schulischen Bereich Fächer und Abschlüsse, die den Neigungen und Fähigkeiten der unterschiedlichen Menschen Rechnung tragen. Gedanken, dass nur das Abitur oder der Studienabschluss wertvoll seien, gehören dringend revidiert. Handwerkliche und soziale Leistungen etwa sind genauso anzuerkennen, wie akademische.

Es gilt, dass wir die Talente, die wir haben, angemessen fördern und Leistung entsprechend belohnen; auch gesellschaftlich in Form sozialer Anerkennung. Damit wir diese Talente aber erkennen und leistungsgerecht beurteilen können, braucht es Vergleiche und Wettbewerb – gerade auch im Schulsystem.

Klar sollte sein: Jede Person darf und sollte sich zur Leistung hin entwickeln. Die Rahmenbedingungen müssen politisch und gesellschaftlich so gesetzt sein, dass dieser Leistungsgedanke trägt. Auf der anderen Seite darf der Leistungsgedanke nicht im Sinne einer rücksichtslosen Leistungsoptimierung den Menschen entwickeln. Die „Ausbildung“ etwa chinesischer Athleten bringt zwar herausragende Sportlerinnen und Sportler hervor – aber zu welchem Preis?

Leistung per se darf niemals über dem Menschen stehen, und die besondere Leistungsfähigkeit der einen darf niemals ein gesellschaftliches Ausschlusskriterium der anderen sein, die solche Leistungen nicht erbringen können. Jeder Mensch ist mehr als nur seine physische und geistige Schaffenskraft. Dennoch ist es Leistung, die uns individuell und auch gesellschaftlich nach vorne bringe, Fortschritt und Aufschwung ermöglicht. Die intrinsische Motivation ist uns mitgegeben. Als Gesellschaft sollten wir alles dafür tun, dass wir diese Lust auf Leistung so lange wie möglich behalten.