Brexit
In der Verteidigungspolitik ist der Brexit schon real
Bislang ist weder klar, zu welchen Bedingungen das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen wird, noch, ob es am Ende überhaupt zum Brexit kommt. Während das britische Unterhaus jedoch weiter um eine mehrheitsfähige Strategie ringt, werden in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik längst Tatsachen geschaffen.
Das Vereinigte Königreich gehört gemeinsam mit Frankreich zu den Initiatoren einer gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Unter dem Eindruck der Jugoslawien-Kriege einerseits und der militärischen und politischen Ohnmacht der europäischen Staaten andererseits, beschlossen die beiden größten Militärmächte Europas sich für eine autonome Handlungsfähigkeit der EU in der internationalen Sicherheitspolitik einzusetzen. Dies markiert bis heute den Grundstein der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).
Gemessen an der Größe seiner Streitkräfte ist das Engagement des Vereinigten Königreichs in den Missionen der GSVP seitdem eher verhalten geblieben. Eine Studie des Unterhauses rechnet vor, dass nur knapp mehr als 4% aller bisher in EU-Missionen eingesetzten Soldaten von den britischen Inseln kamen. Die britische Regierung wurde im Bereich der gemeinsamen Außenpolitik durch andere Mitgliedstaaten häufig als „Bremser“ wahrgenommen, nicht zuletzt weil London durch die europäischen Initiativen weder seine eigene Souveränität eingeschränkt noch die NATO infrage gestellt sehen wollte.
Dennoch bildeten die britischen Streitkräfte stets einen wichtigen Pfeiler für die Glaubwürdigkeit der militärischen Handlungsfähigkeit Europas, nicht zuletzt auch mit Blick auf den in Art. 42 Absatz 7 des EU-Vertrages geregelten Bündnisfall. Immerhin 15% der insgesamt 1,8 Millionen aktiven Soldaten in den Streitkräften der EU-Mitgliedstaaten kommen aus Großbritannien und sogar 30% der europäischen Militärausgaben entfallen auf die britischen Streitkräfte.
Gemeinsam mit Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien übernimmt das Vereinigte Königreich bisher herausgehobene Führungsaufgaben in der europäischen Verteidigungspolitik. So befindet sich die Führungszentrale der Anti-Piraterie-Mission Atalanta vor der Küste Somalias und damit eines von fünf operativen Hauptquartieren der EU im englischen Northwood. Außerdem übernahm London regelmäßig die zwischen den großen Mitgliedstaaten rotierende Führung der europäischen Kriseninterventionstruppe, der so genannten EU battlegroup.
In Erwartung des Austritts aus der Europäischen Union haben aber sowohl der Einfluss Londons in der GSVP als auch der britische Beitrag zur militärischen Lastenteilung in Europa dramatisch zu schwinden begonnen. Seit letztem Jahr ist bekannt, dass das operative Hauptquartier der Mission Atalanta aus Northwood ins spanische Rota verlegt werden wird. Das Kommando über eine andere große EU-Mission, EUFOR Althea in Bosnien-Herzegowina, geht von einem britischen an einen französischen Befehlshaber über. Darüber hinaus wird London entgegen anders lautender Ankündigungen nicht wie ursprünglich geplant ab Juli 2019 die Führung einer EU battlegroup übernehmen. Auch hier werden die Franzosen in die britische Bresche springen.
Die Einsatzbereitschaft der als Kriseninterventionstruppe konzipierten battlegroup war bereits 2013 erstmals durch die Diskussion um einen möglichen Brexit beeinträchtigt worden. Als damals die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Zentralafrikanischen Republik eskalierten, forderten viele in Europa den erstmaligen Einsatz der in Bereitschaft befindlichen Kampftruppe. Diese befand sich jedoch turnusmäßig unter britischem Kommando und wurde auf Weisung des damaligen Premierministers David Cameron nicht eingesetzt, um die euroskeptische Stimmung im eigenen Land nicht weiter anzuheizen. Das Konzept der battlegroups verlor weiter an Glaubwürdigkeit.
Der erwartete Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union hat gerade in der Verteidigungspolitik eine unerwartete Beschleunigung und Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten ausgelöst. Weder die Begründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), noch die Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) wären zuvor denkbar gewesen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Doch noch ist nicht klar, wie die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich als Drittstaat nach einem möglichen Brexit aussehen wird. Während in anderen Politikbereichen wie dem Handel, dem Verkehr oder dem Aufenthaltsrecht laut dem Austrittsabkommen wenigstens eine Übergangsphase vorgesehen ist, um diese Frage zu klären, sind in der Verteidigungspolitik längst Tatsachen geschaffen worden.
Sollte der Austritt aber um nennenswerte Zeit verschoben oder sogar durch ein mögliches zweites Referendum abgewendet werden, müsste die verteidigungspolitische Zusammenarbeit zwischen London und der EU sowohl politisch als auch praktisch ganz neu justiert werden. Dies wäre möglicherweise nicht nur ein herber Rückschlag für das Vereinigte Königreich sondern auch für die außenpolitische Handlungsfähigkeit Europas.
Sebastian Vagt leitet den Expert Hub für sicherheitspolitischen Dialog der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.