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Estland
Deutliches Ergebnis in Estland

Die liberale Reformpartei wird wieder die Regierung anführen und kann sich ihre Koalitionspartner aussuchen
Kaja Kallas

Ministerpräsidentin Kaja Kallas (Mitte) reagiert auf die Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse in Tallinn, Estland, am Sonntag, 5. März.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sergei Grits

Lange hatte es in Umfragen ausgesehen, als ob die Regierung unter der Führung der liberalen Premierministerin Kaja Kallas in Estland ernsthaft durch eine erstarkende Rechtspopulistische Kraft bedroht sei. Aber Umfragen sind Umfragen und Wahlen sind Wahlen und beide sind nicht immer deckungsgleich. Das war definitiv bei den gestrigen Parlamentswahlen in Estland der Fall. Denn triumphaler hätte der liberale Wahlsieg kaum ausfallen können.

Die Reformpartei erhielt mit 31 % und 37 Sitzen (bei 101 Sitzen im Parlament insgesamt) das bestes Ergebnis seit ihrer Gründung 1994. Sie bestätigte damit ihre – im internationalen Kontext rare – Position, zugleich eine echte Volkspartei und eine klar klassisch liberale Partei zu sein. Bei den Wahlen 2019 waren es noch 28,9 % und 34 Sitze.

Die extrem rechtspopulistische Partei EKRE bekam 15,8 % und 17 Sitze. In den Umfragen lieferte sie sich noch bisweilen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Reformpartei. Nun hat sie gegenüber 2019, wo sie einen großen Überraschungserfolg einheimste, sogar ein wenig verloren. Damals waren es 17,8 % und 19 Sitze gewesen. Das Ergebnis blieb somit unter den Erwartungen, wobei man allerdings auch eine Konsolidierung im Parteiensystem des Landes feststellen muss. Am Ende dürfte der auch unter estnischen rechtspopulistischen Wählern umstrittene Kuschelkurs gegenüber Russland (z.B. gegen Waffenlieferungen an die Ukraine) abschreckend gewirkt haben, während der Stimmenertrag unter den Wählern in der starken russischen Minderheit überschaubar blieb.

Die russische Minderheit wählte bisher traditionell die eher sozialpopulistisch orientierte Zentrumspartei, die während ihrer Regierungszeit von 2016 bis 2021 eher zerstritten wirkte und Imageschäden erlitt. Sie fiel von 21,3 % (2019) auf 14,5 % zurück und verfügt nur noch über 16 Sitze (2019 26 Sitze). Hätte es dazu gereicht, so schätzten die meisten Kommentatoren es ein, wäre die Zentrumspartei (obwohl selbst nicht rechtsextrem) wohl eine Koalition mit EKRE eingegangen.

Kallas ist in einer Position der Stärke und kann sich ihre Koalitionspartner selbst aussuchen

Und dann ist da noch der Überraschungsaufsteiger der Wahl, die progressiv-zentrische Partei Eesti 200, die auf 13,6 % und 14 Sitze kam. Die relativ neue Partei, die 2019 erstmals antrat, biete sich wegen starker Überschneidungen zum Programm der Reformpartei als deren Koalitionspartner an. Die Mehrheit von einem Sitz, die eine solche Koalition hätte, wäre aber fragil. Aber um solche Dinge braucht sich Kaja Kallas – nunmehr mit Sicherheit auch neue Premierministerin – keine Sorgen machen. Denn sie ist in einer Position der Stärke und kann sich ihre Koalitionspartner selbst aussuchen.

Denn es ginge auch mit ihren bisherigen Koalitionspartner, den Sozialdemokraten 9,4 % - 9 Sitze) und der konservativen Isamaa (8,4 % - 8 Sitze). Isamaa hatte zuvor versucht, ihre Position als Zünglein an der Waage zu stärken, da sie potenziell auch bereit war, mit EKRE zu koalieren. Das durch das Ergebnis ist das rechnerisch unmöglich geworden. Sollte die Partei in eine Koalition mit der Reformpartei eingehen, ist ihr Druckpotenzial eher gering. Mit diesem Ergebnis sollte Kaja Kallas eine konsistente und ungefährdete Bestimmung des politischen Kurses des Landes möglich sein.

Estland gehörte zu den Ländern, die sich am klarsten gegen Putin einsetzten

Was hatte am Ende des Erfolgs der Reformpartei begründet? Die schon fast „natürliche“ Regierungspartei kann zunächst einmal auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückschauen, die ihr eine hohe Stammwählerschaft zutrug. Sie war die Partei, die durch marktwirtschaftliche Reformen technische Erneuerung (Estland ist das Musterland der Digitalisierung) und eine konsequente Politik der Westbindung an NATO und EU das Land in Sachen Wohlstand an die Spitze unter den ehemals sowjetischen Transformationsländern brachte. Kaja Kallas hat diese Werte immer klar repräsentiert. Ihre Popularität hat wesentlich zum Wahlsieg beigetragen. Satte 31.821 Stimmen holte sie in ihrem Wahlkreis – soviel wie kein Kandidat in irgendeiner Wahl seit der Unabhängigkeit 1991.

Ihre klare Positionierung half ihr vor allem auch im Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Estland gehörte unter ihr zu den Ländern, die sich am klarsten gegen Putin und für eine umfassende, auch militärische Unterstützung der Ukraine einsetzte. Vielen Esten sind noch die Zeiten der sowjetischen Okkupation in schlechtester Erinnerung, was Parteien, die in dieser Frage Wackelkandidaten (Zentrumspartei) oder klandestine Freunde Putins (EKRE) sind, bei der großen Mehrheit der Wähler höchst suspekt machte. Das trieb die Bürger an die Wahlurne. Insgesamt 615 009 Wähler nahmen an der Wahl teil (davon über die Hälfte digital); eine deutliche Steigerung gegenüber den 565.028 von 2019 und wiederum ein Rekordergebnis.

Die Wähler in Estland haben klar und deutlich für eine Westbindung und für die Fortsetzung der Modernisierung des Landes gestimmt. Man kann es nur begrüßen.